Bildquelle: Pro Infirmis

Jasmin Rechsteiner ist eine Brückenbauerin zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen. Ihr Engagement begann schon im Jahr 2005, als sie in St. Gallen für Polizeiaspiranten eine Schulung inklusive einem Rollstuhl-Parcour organisierte. Von da an ging es weiter mit der Miss Handicap Krönung, die 2010 erfolgte. Bei der Wahl ging es nicht um einen Schönheitswettbewerb, sondern darum, eine Botschafterin zu suchen, welche die Bevölkerung auf die Anliegen von Menschen mit Behinderungen sensibilisiert. Rechsteiner, die mit einer Mehrfachverkrümmung der Wirbelsäule geboren wurde, hat den Eindruck, dass die Wahl dazu beitragen konnte. In der Schweiz leben 1,8 Millionen Menschen eine Behinderung. «Aber wenn du die Leute auf der Strasse fragst: «Kennst du Menschen mit Beeinträchtigungen?“, dann ist die Antwort häufig: «nein», obwohl es so viele Leute gibt.» Demnach sei noch viel Sensibilisierungsarbeit nötig, und über die Thematik zu sprechen, sei ein wichtiger Teil der Arbeit.

In einigen Bereichen gab es in den letzten Jahrzehnten doch wesentliche Verbesserungen. Rechsteiner gab folgendes Beispiel: «In den letzten 20 Jahren hat sich die Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehr deutlich verbessert». Ein wichtiges Thema, wenn man bedenkt, dass Rollstuhlfahrer:innen bis anfangs 21. Jahrhundert aus logistischen Gründen im Gepäckwagen mitfahren mussten. Dies wäre heute undenkbar. Volle Autonomie beim Reisen ist aber immer noch nicht gewährleistet. Rollstuhlfahrer:innen, die mit dem Zug reisen möchten, müssen sich bei der SBB anmelden. Dies muss mindestens eine Stunde vor Zugabfahrt beim SBB-Call-Center erfolgen.

Wenn man nicht mehr darüber reden muss
Über Barrierefreiheit bei der politischen Teilhabe wurde an der Behindertensession diskutiert. An diesem Anlass erhielten Menschen mit Behinderung eine Bühne, um gemeinsam zu politisieren. Jasmin Rechsteiner wurde als eine von 44 Parlamentarier:innen gewählt. Ihr bedeutet das entgegengebrachte Vertrauen ihrer Wähler:innen sehr viel, weil es ihr wichtig ist, dass die Interessen und Anliegen von Menschen mit Behinderungen öffentlich vertreten werden. Gleichzeitig aber wäre es ihr Wunsch, dass dies gar nicht mehr nötig ist. Sie sagt: «Inklusion findet statt, wenn man nicht mehr darüber reden muss, wenn wir keine solch speziellen Sessionen mehr machen müssen». Es sollte normal sein, dass grundsätzlich sehr diverse Leute zusammen im Parlament sitzen, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, wie sie dort hineinkommen. Wenn man sich nicht mehr fragen muss, ob der Zugang auch mit dem Rollstuhl funktioniert, seien wir dort, wo sie es gerne hätte. «Nur mit uns – gemeinsam», betont Rechsteiner.

« Inklusion findet statt, wenn man nicht mehr darüber reden muss, wenn wir keine solch speziellen Sessionen mehr machen müssen »

Jasmin Rechsteiner, Parlamentarierin an der Behindertensession

Barrierefreiheit vor Denkmalschutz
Rechsteiner brachte an der Session mehrere Forderungen ein. Eine ist die Zugänglichkeit von öffentlichen Gebäuden. Als konkretes Beispiel nennt sie die Polizeistation beim Berner Waisenhausplatz. Aufgrund von Stufen ist diese für Rollstuhlfahrer:innen nicht zugänglich. Rechsteiner fordert deshalb eine Rampe, damit die Polizeistation für alle zugänglich ist. Sie hat darüber auch schon mit den Verantwortlichen der Polizei gesprochen. «Die würden gerne umbauen, aber ihnen sind die Hände gebunden, weil sie in diesem Gebäude nur eingemietet sind und nicht selbst entscheiden dürfen. In solchen Fällen sollte die Barrierefreiheit einen höheren Stellenwert haben als der Denkmalschutz.» Und so, wie es der Zufall wolle, könne man ab dem vergangenen Freitag selbständig mit dem Rollstuhl zur Polizei gehen.

Mittsprache in der Politik
«Die politische Teilhabe ist derzeit zu wenig gegeben», sagt Rechsteiner. Empört ist sie nicht, aber sie findet es bedauerlich, dass nicht jeder und jede abstimmen darf. Dieses Recht sollte allen zustehen. Menschen zum Beispiel, die eine umfassende Beistandschaft haben, können bis heute nicht abstimmen oder gewählt werden. «Manchmal heisst es, diese Menschen könnten beeinflusst werden, aber das können wir doch alle», betont Rechsteiner.

Gleichberechtigte politische Teilhabe verlangt auch die UN-Behindertenrechtskonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, welche die Schweiz bereits 2014 ratifiziert hat. Wichtig wäre gemäss Rechsteiner jedoch, dass die Schweiz auch das Zusatzprotokoll ratifiziert. Dieses sieht vor, dass Einzelpersonen vor dem UN-Ausschuss Beschwerde einreichen können, wenn der nationale Rechtsweg ausgeschöpft ist.

Herzensprojekt
Nebst ihrem politischen Einsatz ist Rechsteiner bei Ihrem Herzensprojekt «Husglöön» als Patronatin tätig. Die «Huusglöön» besuchen Menschen mit Behinderungen zu Hause oder in Institutionen, um einen Farbtupfer in den Alltag zu bringen. Als Rechsteiner als Kind und Jugendliche lange selbst im Spital war, fand sie die Besuche der Clowns der Theodora Stiftung wunderschön. «Es gibt auch viele Leute, die nicht im Spital sind, aber sich dennoch in einer schwierigen Lebenssituation befinden», sagt sie. Sie sieht, wie die Clowns ein Lächeln in die Gesichter der besuchten Personen und ihren Angehörigen zaubern. Dies sei eine wunderschöne Sache, weswegen sie das Projekt gerne unterstützt. Es sei vielleicht nichts Grosses, aber für die besuchten Personen könne es extrem viel Positives bewirken im Alltag und sie können sich lange an etwas Schönes zurückerinnern.