Der Mangel an barrierefreien Schutz- und Hilfsangeboten erschwert es Frauen mit Behinderungen oft, sich aus gewaltvollen Situationen zu befreien.
Am 25. November ist der internationale Tag gegen Gewalt an Frauen. An diesem Tag werden jährlich weltweit eine Vielzahl von Aktionen und Protesten durchgeführt. Diese sollen die Öffentlichkeit stärker für das Problem der geschlechtsspezifischen Gewalt und deren verschiedener Formen sensibilisieren. Gewalt an Frauen ist eine geschlechtsspezifische Form der Menschenrechtsverletzung. Diese gilt es zu bekämpfen.
Gerne würde ich an einem Tag wie diesem statistische Daten nennen, welche die besondere Gewaltbetroffenheit von Frauen mit Behinderungen in der Schweiz offiziell nachweisen. Doch diese werden aktuell weder auf kantonaler Ebene noch auf Bundesebene erfasst. Dies trotz expliziter Forderungen durch die Istanbul-Konvention, welche konkrete Massnahmen zur Verhinderung und Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt fordert.
Studien aus dem Ausland zeigen auf, dass Frauen mit Behinderungen im Vergleich zu Frauen ohne Behinderungen zwei- bis drei Mal häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Bei körperlicher und/oder psychischer Gewalt handelt es sich um eine doppelt so hohe Betroffenheit im Vergleich zu Frauen ohne Behinderungen. Expert:innen gehen davon aus, dass diese Zahlen auch für die Schweiz gelten. Fehlende konkrete Daten erschweren es aber, die Istanbul-Konvention diskriminierungsfrei umzusetzen. Sie verhindern auch, politischen Druck zu erzeugen, um die aktuelle Lage zu verbessern.
« Studien aus dem Ausland zeigen auf, dass Frauen mit Behinderungen im Vergleich zu Frauen ohne Behinderungen zwei- bis drei Mal häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen sind. »
Menschen mit Behinderungen sind häufig auf geeignete Strukturen und intensivere Betreuung angewiesen. Dies führt meist zu einer emotionalen und körperlichen Abhängigkeit und bringt Menschen mit Behinderungen vermehrt in die Gefahr von Übergriffen und Gewalttaten. Die meisten Gewalttaten ereignen sich, wenn Menschen mit Behinderungen Assistenz- und Pflegebedarf benötigen und Pflegende ihre Machtposition bewusst oder unbewusst ausnutzen.
Beispielsweise führen Hilfeleistungen bei der Körperpflege oft zu Grenzüberschreitungen in der Intimsphäre und besonders bei Frauen zu höherer Betroffenheit von sexualisierter Gewalt. Diese Abhängigkeit kann dazu führen, dass die erlittene Gewalt nicht angezeigt wird, aus Befürchtungen die benötigte Hilfe nicht mehr zu erhalten.
Das Leben in autonomen und geschlossenen Institutionen, wie beispielsweise Pflege- oder Behindertenheime, ist ein weiterer Nährboden für Gewalt. Fehlende Privatsphäre, geringe Mit- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten, keine freie Wahl des Betreuungs- und Pflegepersonals und Beschränkung der sexuellen Selbstbestimmung sind strukturelle Faktoren, welche Gewalt begünstigen können. Innerhalb dieser Institutionen ist zudem meist nur ein bedingter Zugang zu Informationen und unabhängigen Unterstützungsangeboten sichergestellt.
« Das Leben in autonomen und geschlossenen Institutionen, wie beispielsweise Pflege- oder Behindertenheime, ist ein weiterer Nährboden für Gewalt. Innerhalb dieser Institutionen ist zudem meist nur ein bedingter Zugang zu Informationen und unabhängigen Unterstützungsangeboten sichergestellt. »
Zudem gilt es zu beachten, dass Gewalttaten, welche in solchen Institutionen ausgeübt werden, nicht unter die aktuelle Definition von «Häuslicher Gewalt» fallen, obwohl sie funktional ähnlich sind. Dafür müsste die Gewalt von ein:er aktuelle:n/ehemalige:n Partner:in oder einem Familienmitglied ausgeübt werden. Geschlechtsspezifische Gewalt in Behinderteninstitutionen wird in den meisten Fällen durch das Pflege- und Betreuungspersonal ausgeübt. Dementsprechend wird sie unzureichend verfolgt und in Statistiken zu Gewaltbetroffenheit im häuslichen Rahmen unzureichend berücksichtigt.
Die heutigen Strukturen tragen unter anderem dazu bei, genau diese Gewalt aufrechtzuerhalten. Aktuell ist das Frauenhaus in Chur das einzige barrierefreie Frauenhaus, welches betroffenen Frauen mit Behinderungen Schutz bietet. Beratungsangebote oder Informationen für Betroffene sind zudem oftmals nicht vollumfänglich barrierefrei zugänglich.
« Aktuell ist das Frauenhaus in Chur das einzige barrierefreie Frauenhaus, welches betroffenen Frauen mit Behinderungen Schutz bietet. Beratungsangebote oder Informationen für Betroffene sind zudem oftmals nicht vollumfänglich barrierefrei zugänglich. »
Je nach Behinderungen müssen zusätzliche oder spezifische Massnahmen getroffen werden, beispielsweise durch den Einbezug von Gebärdensprachdolmetschenden, was sowohl zu erhöhtem koordinativem Aufwand als auch Kosten führt. Aus diversen Gründen stellt der Staat diese Massnahmen oftmals nicht zur Verfügung.
Fehlende Strukturen und Massnahmen zur Sensibilisierung der Gewaltbetroffenheit von Frauen mit Behinderungen führen unter anderem zur Aufrechterhaltung dieser Gewalt. Besonders Frauen mit Behinderungen werden vermehrt nicht als Opfer von Gewalt wahrgenommen. Meist wird ihnen abgesprochen, selbst einordnen zu können, ob eine Handlung grenzüberschreitend war oder nicht. Diese Risikofaktoren betreffen nicht nur die effektive Gewalterfahrung, sondern auch die Fähigkeit, Gewalt zu erkennen, sich zu wehren, Unterstützung und Hilfe zu suchen und anzunehmen. So wird die Gewalt selbst, als auch deren Folgen verstärkt.
Gewaltbetroffene sind nicht allein und müssen das Erlebte auch nicht allein aushalten. Und genau dort setzt auch der 25. November an. Gewalterfahrungen sind individuell, aber Prävention und Bekämpfung müssen wir als Kollektiv anpacken.
Anmerkung der Autorin: Es ist wichtig zu betonen, dass fehlende und unzureichende Zahlen und Statistiken die Gewaltbetroffenheit von Geschlechtern ausserhalb der binären Vorstellungen ebenfalls nicht abbilden und somit unsichtbar machen. Menschen mit Transidentität, inter Personen und Menschen ausserhalb binärer Geschlechtervorstellungen sind jedoch ebenso (wenn nicht mehr) von Gewalt und Diskriminierung betroffen.
Zur Autorin
Louise Alberti ist Masterstudentin in International and Development Studies mit Fokus auf «Gender, Race & Diversity». In ihrer Bachelorarbeit setzte sie sich mit der Thematik der inklusiven Schutz- und Betreuungsaufgaben bei häuslicher Gewalt auseinander, welche als Grundlage für einen Vorstoss im Zürcher Gemeinderat diente.