Als erster Schritt wurde dort ein kantonales Rahmengesetz für Behindertenrechte erstellt, das von Regierungsrätin Monica Gschwind (FDP) im August den Medien vorgestellt wurde. Das Rahmengesetz ist die Grundlage für ein differenziertes Behindertenrechtegesetz und hält fest:

Die vier Instanzen Kanton, Gemeinden, Träger öffentlicher Aufgaben und Anbieter öffentlicher Leistungen sollen Benachteiligungen verhindern und die allgemeine Zugänglichkeit zur Gesellschaft ermöglichen. Zudem wird ausdrücklich erwähnt, dass die Verhältnismässigkeit jeweils berücksichtigt werden soll, denn viele Gemeinden befürchten wegen den baulichen Massnahmen hohe Kosten im öffentlichen und privaten Sektor. Leider verdrängt das Thema der baulichen Massnahmen viele andere «Baustellen» im Bereich Behindertenrechte, die in der Öffentlichkeit noch zu wenig bekannt sind.

Denn: Inklusion bedeutet mehr als Treppenlifte, Rollstuhlrampen oder spezielle Toiletten. Und Inklusion muss nicht teuer sein, im Gegenteil: Kosten können sogar eingespart werden. Dazu müsste aber vielerorts neu über das Leben von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz diskutiert und nachgedacht werden. Worum geht es? Ein paar Punkte hier kurz und bündig. 

Punkt 1: Politische Rechte

Menschen mit kognitiven oder psychischen Behinderungen können unter umfassende Beistandschaft gestellt werden. Dies betrifft häufig auch alte Menschen mit Demenzerkrankungen. Dadurch verliert die Person ihr Stimm- und Wahlrecht! 

Dagegen kann man sich zwar vor Gericht mit einem ärztlichen Gutachten wehren – aber das ist kompliziert, langwierig und teuer. Das Recht auf politische Teilhabe ist ein Grundrecht aller Schweizer Bürger:innen. Darum gehört diese überkommene  Handhabung abgeschafft.

Punkt 2: Schutz vor Sterilisationen

Das eidgenössische Sterilisationsgesetz macht es möglich, Menschen das Recht auf eigene Kinder und auf körperliche Unversehrtheit abzuerkennen, indem ohne ausdrückliches Einverständnis der Betroffenen Sterilisationen vorgenommen werden können. Dies betrifft Menschen, die sich aufgrund ihrer Behinderung nicht äussern können. Landesweite Statistiken zu Sterilisationen fehlen, über Abtreibungen gibt es überhaupt keine Daten. Es scheint zwar, dass Sterilisationen selten durchgeführt werden. Doch allein schon die gesetzliche Möglichkeit, Sterilisationen ohne Einverständnis der Betroffenen durchzuführen, ist ein No-Go, das uns an schlimmste Zeiten der Vergangenheit erinnert, und muss dringend aufgehoben werden.

Punkt 3: Recht auf ein eigenständiges Leben

Menschen mit Geburtsgebrechen leben noch viel zu oft in Heimen. Sie arbeiten in Behindertenwerkstätten, verbringen ihre Freizeit in Behindertenangeboten und gründen keine eigenen Familien. Die dauerhafte Unterbringung in Heimen und Werkstätten kostet die öffentliche Hand sehr viel Geld. Dabei wäre selbstständiges Wohnen mit ambulanter Betreuung für viele Betroffene möglich. Die Hürden dahin sind hoch, lieber wird der Status Quo, also die Heimunterbringung, aufrecht erhalten. So war es lange auch in der Alterspflege. Da hat man inzwischen dazugelernt und lässt alte Menschen mit Unterstützung durch die Spitex so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden leben. Es ist Zeit, dies auch für Menschen mit Behinderungen möglich zu machen.

Punkt 4: Recht auf Teilhabe am Arbeitsmarkt

Behindertenwerkstätten versprechen mehr, als sie zu leisten imstande sind. Integration in den ersten Arbeitsmarkt findet so gut wie nie statt. Stattdessen wird ein abgeschotteter zweiter Arbeitsmarkt finanziert, der hohe Kosten generiert. Nehmen wir doch die grossen Arbeitgeber:innen in die Pflicht, Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen bereitzustellen. Die öffentlichen Arbeitgeber:innen und die Behindertenorganisationen sollten da mit gutem Beispiel vorangehen.

Behindertengerechte Anpassungen am Arbeitsplatz sind dank technischer Möglichkeiten in vielen Bereichen einfacher und viel kostengünstiger geworden. Diverse Apps, zum Beispiel die Vorlese-Funktion, die von blinden Menschen benutzt wird, sind enorm hilfreich und kostenlos! Menschen mit Behinderungen nutzen diese Apps zu ihrer grossen Freude und Erleichterung sehr gerne. Zeit, dass auch Arbeitgeber:innen erkennen: Inklusion ist möglich und einfacher als gedacht.

Zum Schluss:

Vergessen wir nicht: Eine Behinderung kann jeden und jede von uns jederzeit treffen. 

Die Generation der Babyboomer kommt ins Alter, in dem sie eventuell seh-, hör- oder gehbehindert wird oder komplizierte Texte nicht mehr gut verstehen kann. Viele der Massnahmen für Menschen mit Behinderungen sind auch für alte Menschen wichtig. Möglichst grosse Selbständigkeit, Selbstbestimmung und Teilhabe an der offenen Gesellschaft – auch im Alter - möchten wir alle behalten. Und das ist auch gut so.