Wie das Wetter, so die Stimmung: Bei frühlingshaftem Sonnenschein fällt letzten Donnerstag der Startschuss zur Inklusionsinitiative. Das Initiativkomitee lädt auf den Mittag zum gemeinsamen Sammelstart vor den Progr in Bern und später zur Medienkonferenz im Medienzentrum des Bundeshauses. Die Inklusionsinitiative will die tatsächliche und rechtliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in Artikel 8a der Bundesverfassung verankern.

Bevor Islam Alijaj, SP-Politiker und Mitinitiant der Inklusionsinitiative, die mehreren hundert Menschen vor dem Progr zum Sammeln der ersten Unterschriften entsendet, bringen Mitstreiter: innen die Botschaft der Initiative auf den Punkt. Stellvertretend dafür Olga Manfredi von der Schweizerischen Paraplegiker-Vereinigung SPV: „Wir wollen keine Sonderrechte, wir wollen mit Behinderung nur das tun und lassen können, was für Menschen ohne Behinderung als selbstverständlich gilt“, ruft sie der Versammlung in Erinnerung. Nach einer anschliessenden Instruktion geht es dann auch schon los: Die Versammelten ziehen in Kleingruppen durch die Stadt Bern und sammeln die ersten Unterschriften.

« Wir wollen keine Sonderrechte, wir wollen mit Behinderung nur das tun und lassen können, was für Menschen ohne Behinderung als selbstverständlich gilt. »

Olga Manfredi, Schweizerische Paraplegiker-Vereinigung SPV

Assistenz als Schlüssel zum selbständigen Leben

Doch wer sind die Menschen vor Ort, die sich eingefunden haben? Welche persönlichen Beweggründe haben sie für diese Initiative? Für Simon Hitzinger, Fotograf mit einer Querschnittlähmung, steht ein Bewusstseinswandel im Zentrum: „Die Menschen in der Schweiz sind nicht asozial. Es fehlt aber teilweise am Bewusstsein, dass Menschen mit Behinderung von Anfang an mitgedacht werden müssen. Sei das beim Bau von Gebäuden oder im öffentlichen Verkehr.“

Mehrmals werden der bürokratische Aufwand und die Tücken des aktuellen Assistenz-Systems der Invalidenversicherung ins Feld geführt. Unter anderem von Meral Yildiz. Die Baselbieterin lebt seit einigen Jahren mit Assistenz in einer eigenen Wohnung. Es sei immer wieder ein Ringen um die Finanzierung ihrer Bedürfnisse. Mehrere Stellen seien für die Finanzierung ihres Alltages verantwortlich, diese unterschiedlichen Zuständigkeiten zu managen sei anspruchsvoll. Auch die Personalsuche gestalte sich schwierig. Sie kenne viele Menschen, die sich diesen Aufwand nicht zutrauten und deswegen im Heim blieben.

Ins selbe Horn bläst Peter Buri, Politiker aus dem Kanton Bern. Er ist aufgrund seiner fortschreitenden Muskelerkrankung Arbeitgeber mehrerer Assistent:innen und bezeichnet die Assistenz plakativ als „administrativen Moloch“. Genügend Assistenz für alle Menschen mit Behinderung sei für ihn der Schlüssel zur Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben. Er ist deshalb dem Bürger:innenkomitee der Initiative beigetreten und engagiert sich als Unterschriftensammler. Für ihn sei dieser Tag aber auch auf emotionaler Ebene wichtig, betont er. Er erlebe, dass sich Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam für eine Veränderung engagieren. Das tue gut.

Er denkt bereits über die Inklusionsinitiative hinaus. „Dass neben dem Assistenzsystem der Invalidenversicherung noch alle Kantone jeweils eigene Formen der Finanzierung im Bereich Behinderung haben, ist für die Betroffenen eine Zumutung. Ich würde mir langfristig wünschen, dass die Kompetenz im Bereich Behinderung auf nationaler Ebene vorhanden ist. Mit einer einheitlichen Behindertenpolitik und einer einheitlichen Finanzierung. “

Die erste der 100'000 Unterschriften ist geschafft. (Bildquelle: Jonathan Liechti)

Teilhabe am 1. Arbeitsmarkt gegen den Fachkräftemangel

Dass Assistenz auch für die Teilhabe am 1. Arbeitsmarkt unabdingbar ist, ist am Freitagnachmittag an der Medienkonferenz ein wichtiges Thema. Die gehörlose Ärztin, Präsidentin des Gehörlosenbundes und SP-Nationalratskandidatin, Tatjana Binggeli, erklärt vor der Presse, sie könne nicht ohne Weiteres einfach einen neuen Job suchen. 10 Stunden für Gebärdensprachdolmetscher: innen pro Monat ständen zur Verfügung. „Die heutige Gesellschaft und Arbeitswelt wird immer kommunikationsintensiver. Austausch, Absprachen und Verständigung werden immer wichtiger. Wie soll ich gleichberechtigt am Arbeitsleben teilhaben, wenn meine Möglichkeiten eine neue Stelle zu finden oder regelmässig an Teamsitzungen teilzunehmen, durch fehlende Gebärdensprachdolmetscher:innen derart erschwert wird?“ fragte sie rhetorisch in die Runde.

« Wie soll ich gleichberechtigt am Arbeitsleben teilhaben, wenn meine Möglichkeiten, eine neue Stelle zu finden oder regelmässig an Teamsitzungen teilzunehmen, durch fehlende Gebärdensprachdolmetscher:innen derart erschwert wird?“ »

Tatjana Binggeli, Präsidentin des Gehörlosenbundes

Potential bei der Inklusion in den 1. Arbeitsmarkt sieht auch Vanessa Grand. Die studierte Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin aus dem Kanton Wallis hat erst spät im Leben ihren ersten Arbeitsvertrag unterzeichnet. Es sei zäh gewesen einen Arbeitgeber zu finden, der sie als Frau im Rollstuhl habe anstellen wollte. Sie lebt mit der sogenannten „Glasknochenkrankheit“, hat aber Regelschule und Studium mit Nicht-Behinderten durchlaufen. Sie habe im Laufe der Jahre viele hoch qualifizierte Menschen mit Behinderung kennengelernt und sei überzeugt, dass es hier ein Potential gäbe, um den aktuellen Fachkräftemangel zu bekämpfen, erklärt sie im Gespräch. Dafür sei aber auch ein Wandel bei den Arbeitgebenden wichtig: Zum Beispiel flexible Arbeitsmodelle, sowie die Möglichkeit zu Home-Office und Teilzeitarbeit. Noch wichtiger seien aber die Hürden in den Köpfen der Arbeitgebenden: „Behinderte werden im 1. Arbeitsmarkt oft als Last oder Bedrohung wahrgenommen. Es besteht die Angst, dass wir dauernd ausfallen oder zu wenig leisten.“ Das müsse sich ändern.

Tatsächliche Gleichstellung ist matchentscheidend

Dass es vielfältige und hohe Erwartungen an die Inklusionsinitiative gibt, ist am letzten Donnerstag deutlich spürbar. Welche davon mit einer allfälligen Annahme erfüllt werden können, wird die Zukunft zeigen müssen. Bis jetzt wird Behinderung in der Bundesverfassung in Art. 8 als eine Minderheit von vielen aufgezählt. Die Initiative will einen eigenen Zusatzartikel 8a für Menschen mit Behinderung. Darin wird der Gesetzgeber beauftragt, für die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung mittels Gesetzes zu sorgen. Die Formulierung ist dabei an die ebenfalls in Artikel 8 erwähnte Gleichstellung von Mann und Frau angelehnt.

« Behinderte werden im 1. Arbeitsmarkt oft als Last oder Bedrohung wahrgenommen. Es besteht die Angst, dass wir dauernd ausfallen oder zu wenig leisten. »

Vanessa Grand, Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin

Das für Nicht-Juristen unauffällige Wort „tatsächlich“ ist dabei matchentscheidend. Bisher hat das Bundesgericht ein Anrecht auf faktische Gleichstellung und damit eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderung in vielen Fällen verneint. Das Recht auf Assistenz und selbstbestimmtes Wohnen wird im Initiativtext ebenfalls explizit erwähnt.

Selbst im Falle eines Volk-Neins hat die Initiative das Potential Veränderungen zu bewirken. Die Initiant:innen wurden im Vorfeld nicht müde zu betonen, dass das Thema Behinderung mit dem Zustande-Kommen der Initiative während mehreren Jahren gesellschaftlich, medial und politisch ins Zentrum gerückt werden kann, unabhängig eines Erfolges bei der Volksabstimmung.