Daniel: Carmen, «Politinklusiv» ist eine politische Weiterbildung für Menschen mit Behinderungen. Du machst als Dozentin mit. Wie bist du dazu gekommen?
Carmen: Pro Infirmis war es schon immer ein Anliegen, ein Gefäss zu schaffen, bei dem sich Menschen mit Behinderungen im politischen Prozess engagieren können. Deshalb sind wir auf die Idee gekommen, eine Weiterbildung zu entwickeln. Uns war es dabei wichtig, einen Einstieg zu haben, der ins Thema einführt. Da wurde uns relativ schnell klar, dass wir ein Modul anbieten müssen, das sich der Strategie widmet. Und wie eine Strategie umgesetzt wird. Dieses Modul hat Mirjam Läderach von WWF (World Wide Fund For Nature) übergeben. In diesem Zusammenhang wurde ersichtlich, dass Medien enorm wichtig sind, wenn es um Politik und Kampagnen geht. Und so entstand das Modul Medien, das in der Westschweiz von Sebastian Kessler (GEO) und in der Deutschschweiz von Alex Fischer (Procap) durchgeführt wurde. Danach war klar, dass ich die anderen beiden Module Strategie und Medienarbeit leite.
Daniel: Was kann eine solche Weiterbildung erreichen?
Carmen: Ich glaube, «Politinklusiv» kann wirklich ein Gefäss sein, um noch mehr Menschen mit Behinderungen für die Politik und deren Prozesse zu begeistern. Und um aufzuzeigen, was erreicht werden kann, wenn sich Menschen als Privatperson oder als Teil der Zivilgesellschaft engagieren. Ich glaube, das ist wichtig für alle Menschen. Denn mein persönliches Ziel ist es, dass sich mehr Menschen für die Politik interessieren - ganz generell. Was wir in den letzten paar Monaten auch im Kontext der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) bemerkt haben, ist, dass Menschen mit Behinderungen in der Politik einfach viel zu wenig gehört werden. Sie sind zu wenig präsent. Und falls «Politinklusiv» einen Teil dazu beitragen kann, dass Menschen mit Behinderungen präsenter sind, dann finde ich, haben wir etwas Wichtiges erreicht.
Daniel: Wie lange dauert es an, bis Menschen mit Behinderungen im Kontext der UN-BRK auf politischer Ebene etwas erreichen können?
Carmen: Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich vergleiche es gerne mit anderen Bewegungen, wie der feministischen. Generationen von Frauen und engagierten Personen haben sich dafür eingesetzt und wir sind bis heute noch nicht am Ziel. Ich glaube, dass es ähnlich sein wird bei Menschen mit Behinderungen, die für ihre Rechte und ihr politisches Gehör kämpfen. Daher finde ich es sehr wichtig, dass Menschen mit Behinderungen nun in den Medien noch mehr gehört werden und sie sich Gehör verschaffen.
Daniel: Dann haben wir noch einen langen Weg vor uns…
Carmen: Genau. Das wird noch einige Jahre dauern. Aber ich habe das Gefühl, die Öffentlichkeit ist bereits sensibler geworden. Ich bin der Meinung, dass die Schweizer Bevölkerung ein Verständnis dafür entwickelt, wie wichtig es ist, dass alle Menschen mitreden können. Deshalb bin ich optimistisch, dass wir in den nächsten Jahren zumindest einen grossen Teilerfolg erzielen können.
Daniel: Wie hast du die beiden Module von «Politinklusiv» erlebt?
Carmen: Es war eine äusserst spannende Erfahrung. Vor allem war es interessant, mal auf der Seite der Dozentin zu stehen. Das war herausfordernd! Aufgrund der Covid-Pandemie wurde die Weiterbildung per Zoom durchgeführt. Das bietet weniger Raum für spontane Interaktion. Auch hatte ich den Anspruch, dass die Veranstaltung möglichst barrierefrei ist: So musste ich mich beispielsweise mehr auf mein Sprachtempo achten, damit die Gebärdensprachdolmetscher:innen genügend Zeit zum Übersetzen haben. Ich musste mich somit viel gezielter vorbereiten als bei anderen Weiterbildungen. Die Teilnehmer:innen habe ich aber als sehr engagiert erlebt. Sie haben Beispiele eingebracht, Erfahrungen geteilt, gute Fragen gestellt und viele Ideen entwickelt. Das Beste an solchen Weiterbildungen finde ich immer, dass sich die Menschen untereinander austauschen können.
Daniel: Denkst Du, dass die Weiterbildung nochmals durchgeführt wird?
Carmen: Das liegt in der Hand von Pro Infirmis. Die Nachfrage war aber extrem gross. Es konnten deshalb auch nicht alle teilnehmen, die daran interessiert gewesen wären. Auch wäre es eine Möglichkeit, eine Ausgabe im Tessin zu machen, da sie ja jetzt auf Deutsch und Französisch durchgeführt wurde.
Anmerkung der Redaktion: Politinklusiv fand seither bereits im Tessin statt, im Frühling 2023 ist zudem eine weitere Ausgabe in der Deutschschweiz geplant.
Daniel: Und du? Würdest Du nochmals bei «Politinklusiv» mitmachen?
Carmen: Unbedingt. Es ist mir persönlich ein Anliegen, dass sich mehr Menschen politisch engagieren. Und auch, dass mehr Menschen verstehen, wie sie funktioniert. Wie man bei Entscheidungen Einfluss nehmen kann. Deshalb würde ich sofort wieder mitmachen.
Daniel: Am 8. April hat der Vernetzungsanlass als Abschluss der Weiterbildung stattgefunden. Und wie hast Du diesen Anlass erlebt?
Carmen: Das war sehr spannend. Und auch schön, dass Politker:innen wie Nationalrat Lohr anwesend waren, um von ihren Erfahrungen zu erzählen. Ich habe mich auch mit vielen persönlich austauschen können, die ich davor nur virtuell kannte. Eine wirklich interessante Erfahrung war das Gespräch mit Patrick Mock. Er ist gehörlos und ich habe mich vorher noch nie mit einer gehörlosen Person unterhalten. Und das war total spannend, weil er natürlich Gebärdensprache mit der Übersetzerin gesprochen hat, die neben mir gestanden ist und für mich übersetzt hat. Er hat mich dann zu seinem Stammtisch eingeladen, um ein wenig über die Politik zu sprechen. Da musste ich lachen, denn bei diesem Stammtisch, an dem sich gehörlose Menschen treffen, würde definitiv ich mal eine Übersetzung brauchen. Das habe ich als Anlass genommen, um mich bei einem Kurs für die Gebärdensprache anzumelden. Generell war es also ein sehr wichtiger Anlass, bei dem viele spannende Kontakte geknüpft werden konnten.

