Begegnungen im Alltag sind Chancen, die soziale «Bubble» und Denkweise zu erweitern.
Wie sind Sie gegenüber Menschen eingestellt, die andere Eigenschaften als Sie selbst haben?» Das wollten die Autor:innen der GDI-Studie «Gemeinsam verschieden?» von Bewohner:innen der Schweiz erfahren. Sie führten in ihrer Umfrage folgendes Gedankenexperiment durch: Welche Gefühle habe ich, wenn eine neue Nachbarin viel reicher wäre als ich oder aus einer anderen Sprachregion stammte oder ihr Name auf -ic enden würde? Welche Gefühle würde ein Nachbar bei mir auslösen, wenn er die SVP wählen oder aus Afrika kommen oder sich vegan ernähren würde? Im Experiment wurden 28 unterschiedliche Eigenschaften der fiktiven Nachbarn abgefragt.
Die Studie fragte auch nach den Gefühlen, wenn der fiktive neue Nachbar eine körperliche Behinderung oder eine psychische Erkrankung hätte. Die meisten Befragten gaben an, weder positive noch negative Gefühle gegenüber Menschen mit Behinderungen zu haben.
« Ich verkehre mit diversen Leuten aus unterschiedlichen Ländern, weil ich das spannend finde. Bei mir ist die sprachliche Barriere nicht so gross: ich spreche mehrere Sprachen. »
An der Umfrage nahmen auch Menschen mit Behinderungen teil, wie der Studienleiter Jakub Samochowiec auf Anfrage mitteilte: 7% gaben an eine körperliche Behinderung zu haben und 10% mit einer psychischen Erkrankung zu leben. Die Software, die die Studienleiter für die Online-Umfrage gekauft hatten, bot selber keine barrierefreien Möglichkeiten an. Samochowiec geht aber davon aus, dass die Befragten die Einstellungen im Internetbrowser nutzen konnten, um die Umfrage hindernisfrei auszufüllen und an den Gruppengesprächen teilzunehmen.
Ins «Gespräch» kommen
In der Schweiz leben nach Schätzung des Bundesamtes für Statistik mehr als 1.5 Millionen Erwachsene mit Behinderungen. Deshalb wollte Reporter:innen ohne Barrieren von zwei Menschen mit Behinderungen, die nicht an der Studie teilgenommen hatten, wissen: Welche Eigenschaften einer fiktiven Nachbarin würden bei Ihnen positive oder negative Gefühle auslösen?
Für Mirjam M. sind Eigenschaften wie Religion, Parteiwahl oder Kultur nicht so wichtig. Sie ist hör- wie auch sehbehindert und kommuniziert je nach Situation anders. Sie würde vielmehr darauf achten, ob die neuen Nachbarn überhaupt bereit wären, mit ihr ins «Gespräch» zu treten; zum Beispiel anhand einer Geste, wie einem freundlichen Winken zur Begrüssung. «Es gibt ein paar, die einer Begegnung mit mir lieber ausweichen. Diese lasse ich dann in Ruhe. Viele aber sind offen für einen kurzen Kontakt», fügt Mirjam M. an.
« An der Umfrage nahmen auch Menschen mit Behinderungen teil, wie der Studienleiter Jakub Samochowiec auf Anfrage mitteilte: 7% gaben an eine körperliche Behinderung zu haben und 10% mit einer psychischen Erkrankung zu leben. »
Marcel R. ist als Kleinkind erblindet, trotzdem lebt und arbeitet er in einem Umfeld, das «normal» sieht, wie er sagt. In seiner Nachbarschaft leben Menschen mit unterschiedlichen Lebenshintergründen und solche, die aus anderen Teilen der Welt zugezogen sind: «Ich habe es gut mit allen im Haus.» Über ihre Herkunft oder soziale Gruppe habe er sich nie Gedanken gemacht. «Mich würde allenfalls stören, wenn eine Person auf eine Art kriminell wäre, die für mich eine Gefahr darstellen würde», bemerkt Marcel R.
Vielfalt im Bekanntenkreis
Die Studie zeigte auf, dass viele Schweizer:innen einen Bekanntenkreis pflegen, der nicht besonders vielfältig ist. Die Befragten gaben an, dass sie zwar offen sind gegenüber anderen Lebensweisen, aber im Alltag in einer Art sozialen Blase mit Leuten leben, die ihnen ähnlich sind. So gaben 57% an, dass sie nicht auf körperlich behinderte Menschen treffen und 41% keinen psychisch Erkrankten begegnen würden.
Dagegen pflegt Marcel R. Kontakt mit Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten: vom Handwerker bis zum Bankdirektor. «Ich verkehre mit diversen Leuten aus unterschiedlichen Ländern, weil ich das spannend finde. Bei mir ist die sprachliche Barriere nicht so gross: ich spreche mehrere Sprachen», erzählt er. Zudem schätzt er das politisch breite Spektrum in seinem Umfeld, weil er gerne die Argumente von links bis rechts hört.
« Die Studie zeigte auf, dass viele Schweizer:innen einen Bekanntenkreis pflegen, der nicht besonders vielfältig ist. Die Befragten gaben an, dass sie zwar offen sind gegenüber anderen Lebensweisen, aber im Alltag in einer Art sozialen Blase mit Leuten leben, die ihnen ähnlich sind. »
Mirjam M. zählt auch Personen zu ihrem Bekanntenkreis, die ganz anders sind als sie selbst, wie «solche, die die SVP wählen, die extrem vegan sind, Millionen besitzen oder sich jeden Monat knapp über Wasser halten.» Weitere ihrer Bekannten stammen aus Asien, die einen tragen einen Doktor-Titel und andere sind ohne Bildungsabschluss. Ihre Bekannten hat Mirjam M. auf unterschiedliche Weise kennengelernt: an Anlässen wie einer Geburtstagsfeier, auch in der Nachbarschaft und der Verwandtschaft sowie während Aus- und Weiterbildungen.
Marcel R. hat schon als Kind bewusst Kontakt zu Menschen ohne Behinderungen gesucht und in Kauf genommen an Grenzen zu stossen. «Für mich ist es o.k., wenn die Leute etwas schaffen, was ich nicht schaffe. Und es liegt an mir, einen Weg zu finden, die Verbindung aufzunehmen in der Welt und mich halt auch anzustrengen», erklärt er.
Ein Alltag ohne Vielfalt würde Mirjam M. sehr eintönig vorkommen. Auch Marcel R. empfindet eine vielfältige Gesellschaft als eine Bereicherung: «Das soziale Umfeld spielt eine riesige Rolle dabei, wer du bist.» Für ihn erweitert ein vielfältiger Freundeskreis die eigene Denkweise.
Gemeinsam verschieden? Die grosse Schweizer Vielfaltsstudie
Wie fühlt sich eine vielfältige Gesellschaft für die Bewohner:innen in der Schweiz an? Das wollte die Studie des Gottlieb Duttweiler Instituts herausfinden und führte dazu zwei Online-Umfragen mit über 3’000 Menschen zwischen 16 und 80 Jahren in allen Sprachregionen durch. Für die Fragen gingen die Studienleiter vom Art. 8 der Bundesverfassung aus, der festlegt, welche Merkmale in der Bevölkerung nicht diskriminiert werden dürfen. Zusätzlich zur Umfrage führten 8 gemischte Gruppen mit 4 bis 5 Personen Online-Gespräche. Die meisten der Befragten haben weder positive noch negative Gefühle gegenüber bestimmten Merkmalen in der Bevölkerung. Viele sind offen für andere Lebensweisen, doch die meisten leben in einer sozialen Blase mit ähnlich Leuten. Aus dieser Blase herauslocken lassen sich die Befragten über den Freundeskreis, in der Ausbildung und am Arbeitsplatz.
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