Der Einzug in den Nationalrat ist ein mit voller Kraft angestrebtes Lebensziel von Behindertenaktivist Islam Alijaj.

Islam Alijaj erzählt seine Lebensgeschichte als einer von vier Brüdern einer kosovarischen Familie, die schon vor dem Krieg in die Schweiz zog. Eine familiäre Tellerwäschergeschichte, der Vater arbeitete ein Leben lang als Metallschleifer, die Mutter als Reinigungsfachkraft.

Durch Erfahrung Sonderschule politisiert

Islam Alijaj ist aufgrund einer Zerebralparese körperlich sicht- und hörbar eingeschränkt. Eine kurze Sauerstoffunterversorgung während der Geburt führt dazu, dass er seine Extremitäten und die Zunge nicht richtig steuern kann. Wenn es um Turnen oder Handarbeit geht, werde er niemals gute Leistungen erbringen können, das gibt er selbst offen zu. An seiner Sprechfähigkeit muss er hart arbeiten. Aber in dem jungen Mann steckt ein wacher Geist, ein glasklarer Verstand. Der keine Lust darauf hat, dass seine Fähigkeiten unbenutzt bleiben, und sein Leben bemitleidet in einer Behinderteninstitution verstreicht. Er fühlt sich schon früh ausgebremst in der Sonderschule, mit dem Stoff unterfordert. Sein Vater muss bei der Schulleitung antreten und für mehr Lerninhalte kämpfen. Das kann aber nicht verhindern, dass Alijaj nach neun Jahren Schulstoff über drei Jahre Rückstand gegenüber nichtbehinderten Schülern hat. Weiter ist seine Sonderschulklasse nicht gekommen. Beinahe kommt es zu einer Lehre mit stark reduziertem Lernstoff, einer INSOS-Praktiker-Lehre. Diese für Islam Alijaj entsetzliche Perspektive prägt ihn grundlegend und erweckt seinen Kampfgeist.

Wut als Motor

Die Erfahrung mit der Sonderschule wird nicht seine letzte negative mit den Strukturen im Behindertenbereich gewesen sein. Es gelingt Alijaj in diesem biographischen Teil, den Leser:innen in packender und prägnanter Sprache nahezubringen, welche Tücken und Fallstricke das Leben mit Behinderung mit sich bringen kann und das oft bediente Bild des gut versorgten bedauernswerten Behinderten in Frage zu stellen. Er nimmt die Leser:innen mit auf die Reise nach einem für ihn geeigneten Schulabschluss. Er muss dafür eine Schule finden, zwei Jahre lang Lernstoff nachholen und eine Anlehre machen, bis er die KV-Lehre im E-Profil absolvieren kann. Und scheitert mit seinem Wunsch nach einem Studium erneut an den damaligen Strukturen. Hier hat das Buch zweifellos seine Stärke. Diese Lebensgeschichte lässt nicht unberührt. Wer es nicht schon zuvor wusste, glaubt es jetzt: Dieser Mann will etwas erreichen und hat schon so manche Hürde überwinden müssen.

Kein Einzelkämpfer

Die Kapitel der Co-Autorin Christine Loriol runden das selbst gezeichnete Bild von Alijaj ab. Darin kommen Familienmitglieder, Weggefährten und politische Akteure wie der Campaigner Daniel Graf zu Wort. Sie bringen nicht nur ihre Sichtweise zu Alijaj, sondern auch weitere Perspektiven auf die aktuelle Behindertenpolitik in der Schweiz mit ins Buch. Es wird deutlich: Alijaj ist kein Einzelkämpfer, er baut weiter an dem Fundament, das andere errichtet haben. Er schafft es immer wieder Netzwerke und Verbindungen zu knüpfen, die ihn und die Behindertenpolitik voranbringen.

Mehr als eine Biografie: Das Buch "Wir müssen reden" von Islam Alijaj.

Mitunter etwas gewöhnungsbedürftig ist die Sprache Christine Loriols in diesem Buch. Die von ihr geschriebenen Kapitel sind tagebuchartig, sie lässt Leser:innen an ihren Gedanken teilhaben, reflektiert auch die Kommunikation mit Alijaj, beschreibt Szenen detailreich. Das wirkt teilweise langatmig oder unnötig, zum Beispiel wenn sie über Zoomkonferenzen mit Alijaj schreibt oder ihn vor dem Gespräch mit Keller erneut vorstellt.

Mehrstimmigkeit der Erfahrungen

Christoph Keller bringt in den letzten beiden Kapiteln seine Perspektive als bereits etwas gealterter Mensch mit Behinderung ein. Er und Islam Alijaj vergleichen die verschiedenen Zeiten, aber auch die Situation der Barrierefreiheit in der Schweiz mit jener in New York, wo Keller lange lebte. Alijaj zeigt damit das, was er selbst predigt: Die Welt der Behinderten ist vielfältig und die Erfahrungen sind unterschiedlich. Er nimmt im Buch auch immer wieder Bezug zu Menschen mit anderen Behinderungsformen, unter anderem drückt er seinen Ärger gegenüber Bundesrat Berset aus, für dessen Nicht-Handeln gegenüber Long-Covid-Betroffenen. Diese weite Perspektive auf die gesamte Behindertenwelt macht das Buch zu weit mehr als einer reinen Biographie.

 

Buch-Info

Titel: Wir müssen reden – Ein biografisches Manifest

Autoren: Islam Alijaj, Christine Loriol

Erschienen im Mai 2023 im Limmatverlag

224 Seiten, Preis: CHF 29, überall im Buchhandel erhältlich