Minamimura steht in einem weissen, weiten Kleid auf der Bühne, beleuchtet von einem bläulichen Licht. Sie schaut mit intensivem Blick direkt in die Kamera. Auf dem schwarzen Hintergrund ist eine Linienzeichnung zu sehen – eine sehr vereinfachte, grafische Karte der Stadt Hiroshima. Nur der Umriss der Stadt ist zu sehen. Die Zeichnung ist grösser als die Protagonistin. Auf die Künstlerin sind vier violett-blaue, konzentrische Kreise projiziert. Der kleinste befindet sich direkt über Minamimuras Herz. Die Kreise sind mit Distanzangaben (1 km bis 4 km) beschriftet. Sie zeigen an, wo eine Bombe eingeschlagen hat und welcher Radius vom Einschlag betroffen ist. Minamimuras Kopf ist leicht nach oben gerichtet. Links oben, neben Minamimura, steht in Grossbuchstaben «Hiroshima». Die Schrift und die Kreise spiegeln sich auf dem schwarzen Bühnenboden. Bildquelle: Mark Pickthall

Minamimura steht in einem weissen, weiten Kleid auf der Bühne, beleuchtet von einem bläulichen Licht. Sie schaut mit intensivem Blick direkt in die Kamera. Auf dem schwarzen Hintergrund ist eine Linienzeichnung zu sehen – eine sehr vereinfachte, grafische Karte der Stadt Hiroshima. Nur der Umriss der Stadt ist zu sehen. Die Zeichnung ist grösser als die Protagonistin. Auf die Künstlerin sind vier violett-blaue, konzentrische Kreise projiziert. Der kleinste befindet sich direkt über Minamimuras Herz. Die Kreise sind mit Distanzangaben (1 km bis 4 km) beschriftet. Sie zeigen an, wo eine Bombe eingeschlagen hat und welcher Radius vom Einschlag betroffen ist. Minamimuras Kopf ist leicht nach oben gerichtet. Links oben, neben Minamimura, steht in Grossbuchstaben «Hiroshima». Die Schrift und die Kreise spiegeln sich auf dem schwarzen Bühnenboden. Bildquelle: Mark Pickthall

Ahnungslos müht sich die Frau auf der Bühne auf einem Feld ab. Dann wechselt die Perspektive zum Flugzeug mit der Fracht, die in sich eine apokalyptische Zerstörungskraft birgt. Wieder ein Wechsel zur Frau, die immer noch den Boden beackert, nicht wissend, dass gleich eine gewaltige Tragödie ihr Leben erfassen wird. 

In ihrem Stück «Scored in Silence» präsentiert Chisato Minamimura schonungslos die Perspektive der gehörlosen Überlebenden der Atomeinschläge von 1945. Ihre Solo-Performance fordert das Publikum auf hinzusehen, zuzuhören und nachzudenken. Mit ihr ist Minamimura bereits an über 40 Orten auf der ganzen Welt aufgetreten. Erstmals war sie am 28., 29. und 30. Mai 2024 in Bern zu sehen. Das im Rahmen des Berner Theaterfestivals «auawirleben». 

« Mit ihrer Kreation für die Sinne lässt Minamimura das Publikum erleben, wie sie und die gehörlosen Menschen die Welt wahrnehmen. »

Mirjam Münger, Autorin RoB, Beraterin f. Schwerhörige & Gehörlose

Minamimura ist Performance-Künstlerin und Gebärdensprach-Kunstführerin. Sie ist gehörlos, in Japan geboren und hat Kunst studiert. Danach hat sie sich in London in Musik und Tanz ausbilden lassen und lebt dort.

Multisensorische Erfahrung für das Publikum

Die Inszenierung besteht aus einer bemerkenswerten Vielfalt an Ausdrucksformen und Medien, wie Gebärdensprache, Bewegungen, Pantomime, Bildern, Filmen, Vibrations-Effekten und Tönen. Diese lässt Minamimura ineinanderfliessen und verschmilzt mit ihnen zu einer magischen Einheit.

Minamimura hat erst eine visuelle und taktile Partitur erstellt und danach mit Danny Bright, einem Klangkünstler, experimentiert, wie Töne und Musik in diese integriert werden können. «Ich nutze in meinen Shows verschiedene Wege, um zu zeigen, wie Töne visualisiert werden können», erklärt sie.

Die Töne in «Scored in Silence» entsprechen nicht solchen von Flugzeugen oder vom Wind. Stattdessen sind sie abstrakt und von Minamimuras Bewegungen dirigiert. Die drehenden Rotorblätter des Flugzeugs, beispielsweise, sind auditiv als Knistern wahrnehmbar. Dieses intensiviert sich, wenn Minamimura die zweiten, dritten, vierten und fünften Finger ihrer Hände ausstreckt.  

« Ich nutze in meinen Shows verschiedene Wege, um zu zeigen, wie Töne visualisiert werden können »

Chisato Minamimura, Performance-Künstlerin, Kunstführerin

Während der Aufführung setzt Minamimura Projektionen ein. Auf diese Weise wird eine Reihe von Bildern und Skizzen nicht hinten auf eine Leinwand, sondern auf eine unsichtbare Leinwand vor der Darstellerin projiziert, etwa die Striche und Kreise einer Zielscheibe. 

Auf der Bühne trägt Minamimura einen Bassgürtel. Mit diesem spürt sie die Töne in Form von Vibrationen. Daran lässt sie das Publikum teilnehmen, indem eine Zahl solcher Gurte dem Publikum zur Verfügung steht. Die Vibrationen variieren. Zum Beispiel wachsen sie von schwach zu stark an oder verstummen und kehren in einem unerwarteten Moment wieder zurück. 

Mit ihrer Kreation für die Sinne lässt Minamimura das Publikum erleben, wie sie und die gehörlosen Menschen die Welt wahrnehmen. 

Minamimura steht zusammengesunken in der Mitte der Bühne. Das bläuliche Licht scheint auf ihr weisses, weites Kleid. Hinter ihr ist auf der Leinwand eine überdimensionale Gestalt in Schwarz und ohne Arme. Links und rechts daneben stehen weitere ebenso grosse armlose Gestalten in Blaugrün und dunklem Blassgrün. Bildquelle: Mark Pickthall

Minamimura steht zusammengesunken in der Mitte der Bühne. Das bläuliche Licht scheint auf ihr weisses, weites Kleid. Hinter ihr ist auf der Leinwand eine überdimensionale Gestalt in Schwarz und ohne Arme. Links und rechts daneben stehen weitere ebenso grosse armlose Gestalten in Blaugrün und dunklem Blassgrün. Bildquelle: Mark Pickthall

Von einer bewegenden Begegnung  

Auf das Thema ihres Stücks kam Minamimura über eine ältere gehörlose Frau, die am Ende des Zweiten Weltkriegs in Hiroshima lebte. Sie erzählte der Künstlerin in japanischer Gebärdensprache, wie sie Explosion der Atombombe und die Zeit danach erlebt hatte. 

«Dass ich selber auch gehörlos bin und in Gebärdensprache kommuniziere, hat mir den Zugang zu ihr eröffnet», erläutert Minamimura. Ihre Geschichte habe sie so sehr berührt. «Und so beschloss ich, ihre Geschichte und die der anderen gehörlosen Überlebenden der Welt zu erzählen.» 

« Kunst berührt uns einfach. Sie kann Verbindungen zwischen Einzelpersonen und Gemeinschaften schaffen und die Inklusion fördern. »

Chisato Minamimura, Performance-Künstlerin, Kunstführerin

Bei ihren umfangreichen Recherchen und Interviews stiess Minamimura auf zahlreiche Diskriminierungen der gehörlosen Überlebenden in der japanischen Gesellschaft von damals und thematisiert sie in ihrer Show. So wurden die Hörenden vor dem Bombeneinschlag gewarnt, damit sie rechtzeitig Schutz suchen konnten. Aber diese Warnungen erreichten die Gehörlosen nicht, und so waren sie diesem grauenhaften Ereignis schutzlos ausgeliefert. Weiter wurden sie nicht über ihre Rechte informiert, zum Beispiel den erleichterten Zugang zum Gesundheitssystem. Hinzu kommt, dass sie nicht in der Lage waren, die Geschichte, die ihnen widerfahren ist, zu erzählen. Niemand beachtete sie. 

Mit Kunst Veränderungen anregen

Damit sich das ändert, trägt Minamimura diese Erfahrungen an die Öffentlichkeit. «Meine Botschaft an das Publikum ist die Frage, was wir aus dieser Vergangenheit lernen können», so die Künstlerin. Sie hofft, mit ihren Auftritten Veränderungen initiieren zu können: «Kunst berührt uns einfach. Sie kann Verbindungen zwischen Einzelpersonen und Gemeinschaften schaffen und die Inklusion fördern.» 

Minamimura ist mit «Scored in Silence» ein aussergewöhnliches Werk gelungen, bei dem sie historische Reflexion, Technik und vielfältige künstlerische Ausdrucksformen miteinander vereint. Und ihr Werk entfaltet sich auf der Bühne zu einer kraftvollen Darstellung mit einer eindringlichen Botschaft gegen das Ausgrenzen von Menschengruppen.