Sie kamen in Rollstühlen, mit weissen Stöcken und mit ihren Assistenzpersonen ins Berner Rathaus. Zahlreiche Menschen mit Behinderungen folgten dem Aufruf der Kantonalen Behindertenkonferenz KBK, die erste Debatte über das Behindertenleistungsgesetz, BLG, im Grossen Rat mitzuverfolgen. Am Vormittag war die Zuschauertribüne voll. Da die Tribüne mit dem Rollstuhl nicht erreichbar war, war im Grossratssaal Platz für einige Rollstuhlfahrende geschaffen worden. Die Debatte wurde auch auf eine Grossleinwand in die Rathaushalle im Erdgeschoss übertragen, in welchem sich weitere Zuhörende befanden. Am Nachmittag übersetzte eine Dolmetscherin die Debatte in Gebärdensprache.

Notwendige Modernisierung

Die Ratsmitglieder waren sich einig, dass das Versorgungssystem für Menschen mit Behinderungen modernisiert werden muss. Sie sollen mehr Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe erhalten und selber wählen, wie und wo sie wohnen möchten. Dafür investiert der Kanton jährlich zusätzlich 20 Millionen Franken, um die behinderungsbedingten Unterstützungsleistungen zu decken, wie es die UNO-Behindertenrechtskonvention verlangt.

Von der Objektfinanzierung zur Subjektfinanzierung

Mit dem BLG werden Wohnheime und Tagesstätten für Menschen mit Behinderungen nicht mehr mit Pauschalen direkt vom Kanton bezahlt. Stattdessen soll der Unterstützungsbedarf, welchen die einzelne Person benötigt, individuell abgeklärt werden. Auf Basis dieser Abklärung werden die Leistungen bemessen, die Menschen mit Behinderungen sich einkaufen können. Dabei können sie zwischen stationären und ambulanten Leistungen oder einer Kombination aus beiden wählen. Neu können Menschen mit Behinderungen auch Angehörige, die Leistungen für sie erbringen, entschädigen.

Noch offene Fragen

Die Debatte vom 7. Dezember war die erste Lesung zur Gesetzesvorlage. In einigen Punkten gingen die Meinungen über das Wie und das Wieviel  auseinander. So beispielsweise bei der Frage, ob die Bedarfsermittlung von einer unabhängigen Stelle oder von Behinderteninstitutionen durchgeführt werden sollen, ob diese Abklärungen bei allen Betroffenen im Kanton Bern erfolgen sollen oder nur bei Neuanmeldungen und wenn sich der Unterstützungsbedarf ändert. Der Rat wies deshalb mehrere Fragen an die Kommission zurück. Diese soll auch klären, wer zum Kreis der Angehörigen gehört und ob auch Minderjährige Zugang zu Assistenzleistungen haben können. Der Rat stimmte am Schluss der ersten Lesung der Vorlage einstimmig zu. In der Sommersession 2023 wird der Grosse Rat das Gesetz in zweiter Lesung beraten.

Anträge verworfen

Fast alle Anliegen, welche die Kantonale Behindertenkonferenz KBK – der Dachverband von rund 40 Organisationen aus Selbsthilfe, Beratung und Fachhilfe sowie betroffenen Einzelmitgliedern eingebracht hat, hat der Rat aus Kostengründen verworfen. Zwar lenkte der Grosse Rat in einem Punkt ein, nämlich nicht starr an einer Obergrenze für Unterstützungsleistungen festzuhalten. Somit sollen Einzelfälle geprüft und für eine angemessene Bedarfsdeckung gesorgt werden können. Simone Leuenberger, EVP-Grossrätin wertet es zudem als positiv, dass die Kommission über einzelne zentrale Fragen nochmals diskutieren und allenfalls Lösungen finden kann.

Gemäss UNO-BRK müssen Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen einbezogen und ihre Mitsprache und Mitwirkung müssen sichergestellt werden. Das gilt auch für die Umsetzung von Gesetzen. Eine Minderheit der vorberatenden Kommission hatte deshalb eine beratende Kommission mit Einbezug von Menschen mit Behinderungen beantragt. Doch dies wurde abgewiesen.

Lange Vorgeschichte

Das BLG hat eine lange Vorgeschichte, die 2008 mit der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Neuen Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen, NFA, begann. Damit hat der Bund den Kantonen die Verantwortung für den Bereich der institutionellen Behindertenhilfe übertragen. In der Folge hat der Kanton Bern mit Betroffenen, mit Behindertenorganisationen und -institutionen ein Konzept für ein neues Finanzierungsmodell ausgearbeitet. Dieses ist in einem Pilotprojekt über mehrere Jahre hinweg getestet und optimiert worden. Die Mehrheit des Grossen Rats sprach sich dafür aus, dass dieser Paradigmawechsel jetzt stattfinden und nicht länger hinausgezögert werden soll.

« Wir müssen aktiv bleiben. »

Simone Leuenberger, EVP-Grossrätin

Die KBK wird, erklärt Geschäftsführerin Prisca Lanfranchi, die Ergebnisse der Debatte analysieren und prüfen, wie das BLG weiter optimiert werden könnte. Sie hofft, dass doch noch einige Verbesserungen Eingang ins BLG finden werden. „Wir müssen aktiv bleiben“, sagt EVP-Grossrätin Leuenberger und empfiehlt Menschen mit Behinderungen, sich übers BLG zu informieren sowie mit möglichst vielen Menschen darüber zu reden. Denn viele wüssten wenig über den Alltag von Menschen mit Behinderungen. Dazu gehören, so Leuenberger, auch zahlreiche Mitglieder des Grossen Rats.

Das Gesetz über die Leistungen für Menschen mit Behinderungen BLG ist ein wichtiger Meilenstein zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts der Menschen mit Behinderungen. Der Kanton Bern hat jahrelang in die Vorbereitungen fürs BLG investiert. Er nimmt mit der Umstellung auf die Subjektfinanzierung als eine der ersten Schweizer Kantone eine Vorreiterrolle ein. Noch zeigt das BLG Potenzial zur Optimierung, insbesondere sollte der Einbezug der Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen des BLGs realisiert werden. Der Grosse Rat hat es in der Hand, den Menschen mit Behinderungen zu zeigen, wie ernst er es mit der Umsetzung der UNO-BRK meint. Sonst wird der Glanz seiner Vorreiterrolle blasser.