Markus Schefer, im Anzug mit roter Krawatte, sitzt im Stuhl und lächelt in die Kamera. Im Hintergrund sind Fenster und eine Pflanze zu sehen. Bildquelle: Ursula Häne.

Herr Schefer, Art. 8 der UN-Behindertenkonvention fordert den Staat auf, für die Rechte und Würde der Menschen mit Behinderungen zu sensibilisieren. Was ist damit gemeint?

Der Staat muss darauf hinwirken, dass in der Gesellschaft die Vorurteile gegenüber den Menschen mit Behinderungen abgebaut werden. Dazu muss er Massnahmen ergreifen.   

Warum sind solche staatlichen Massnahmen so wichtig?

Weil Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft sehr verbreitet und tief verankert sind, wie etwa, dass sie nichts können. Ihre Beiträge und Fähigkeiten sollen gewürdigt werden, wie jene aller anderen Menschen auch. Zudem helfen Massnahmen, die der Staat für ihre Inklusion trifft, um Vorurteile abzubauen. 

Können Sie Beispiele von Massnahmen nennen, die der Staat bereits dafür getroffen hat?

Die Behindertensession im Frühling 2023. Und die Aktionstage Behindertenrechte, die vom 15. Mai bis 15. Juni dieses Jahres in der gesamten Schweiz stattfinden.

« Insbesondere die Mitarbeiter:innen von Verwaltungen müssen in ihren Köpfen ein Bewusstsein für die Rechte der Menschen mit Behinderungen entwickeln. »

Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht

Wo soll sich der Staat verbessern?   

Die Menschen, die innerhalb der Verwaltungen von Bund, Kantonen und Gemeinden arbeiten, müssen sich der Rechte der Menschen mit Behinderungen bewusst sein. Da besteht noch ein grosser Handlungsbedarf. 

Meinen Sie, dass Bund, Kantone und Gemeinden mehr Menschen mit Behinderungen anstellen und alle Zugänge barrierefrei gestalten sollen? Beispielsweise mit Leichter Sprache auf ihren Webseiten?

Ja, beides. Aber insbesondere die Mitarbeiter:innen von Verwaltungen müssen in ihren Köpfen ein Bewusstsein für die Rechte der Menschen mit Behinderungen entwickeln. Dazu können etwa regelmässige Schulungen beitragen. 

Was ausser solchen Kursen verhilft auch dazu, dass der Staat für eine vorurteilsfreie Einstellung sorgt und die Rechte der Menschen mit Behinderungen achtet? 

Die Menschen mit Behinderungen müssen bei Entscheidungsprozessen auf nationaler, kantonaler und kommunaler Ebene enger eingebunden sein. Meine Beobachtung ist, dass der Austausch zwischen dem Staat und den Menschen mit Behinderungen besser gelingt, wenn sie dafür eine gesetzlich verankerte Plattform errichtet haben. Eine solche kann zum Beispiel eine kantonale oder kommunale Fachstelle für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen sein. Diese Austauschplattformen tragen dazu bei, dass sich die Behörden mit den Themen der Menschen mit Behinderungen auseinandersetzen müssen und offener für sie werden. Auch für Anliegen, welche die Privatwirtschaft betreffen, wie etwa die Zugänglichkeiten von Läden.

« Die Behindertenverbände sollen besser zusammenarbeiten und für einen gemeinsameren Auftritt sorgen. Heute schauen viele Behindertenorganisationen noch für sich und lobbyieren für sich. »

Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht

Sie sagen, dass Menschen mit Behinderungen in der Politik aktiver mitentscheiden sollen. Aber der Bund hat letzten Dezember den Entwurf für die Revision des Behindertengleichstellungsgesetzes vorgestellt. Viele Behindertenorganisationen haben diesen kritisiert, weil er die Rechte der Menschen mit Behinderungen zu wenig stärke.  

Man hätte die Menschen mit Behinderungen viel früher und aktiver in diesen Prozess einbeziehen müssen, nicht erst als der Entwurf in der Vernehmlassung war. Dann wäre er besser herausgekommen. 

Aber auch das Parlament zeigt sich oft bei den Anliegen von Menschen mit Behinderungen zurückhaltend.

Ja, im Nationalrat haben wir nur drei Menschen mit Behinderungen und im Ständerat niemanden. Es braucht in beiden Kammern dringend mehr Menschen mit Behinderungen. Dazu muss diese Menschengruppe noch stärker als bisher politisch tätig werden, im Gemeinderat, im Gross- und Regierungsrat, im National- und Ständerat, im Bundesrat. Das ist wichtig, damit ihre Vertretung in der Politik steigt. Es setzt voraus, dass sich die Parteien stärker für ihre Anliegen öffnen.      

Was braucht es noch, damit das Bewusstsein der Parlamentarier:innen für die Rechte der Menschen mit Behinderungen weiter geschärft wird?

Die Behindertenverbände sollen besser zusammenarbeiten und für einen gemeinsameren Auftritt sorgen. Heute schauen viele Behindertenorganisationen noch für sich und lobbyieren für sich. Gemeinsam könnten sie mit mehr Parlamentarier:innen in einen Austausch treten und sie überzeugen. So könnten die Verbände mehr erreichen. 

Wie würde es also aussehen, wenn der Staat und die Gesellschaft für die Rechte der Menschen mit Behinderungen sensibilisiert wären?

Die Menschen mit Behinderungen wären in allen Bereichen der Gesellschaft viel stärker vertreten als heute, und sie könnten überall teilhaben. 

Gäbe es ein Land, das hier für die Schweiz als Vorbild dienen könnte?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich finde es wirklich schwierig ein Land zu nennen. Jedoch ist Neuseeland hier viel weiter als die Schweiz. 

« Der Fokus liegt auf individuellen Unterstützungsmassnahmen, die gewährleisten, dass die Menschen mit Behinderungen direkt in der Gesellschaft leben. »

Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht

Wie kann ich mir das konkret vorstellen?

Menschen mit Behinderungen gehören dort selbstverständlicher zur Gesellschaft als bei uns. Die Neuseeländer:innen haben ein Ministerium für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen, was in der Schweiz einem Bundesamt entspricht. Zudem haben sie praktisch keine Institutionen, die extra für Menschen mit Behinderungen betrieben werden. 

Also auch keine Wohnheime für Menschen mit Behinderungen?

Neuseeland unterstützt Menschen mit Behinderungen mit der nötigen Assistenz, dass sie wohnen können, wo und mit wem sie wollen, wie Menschen ohne Behinderungen auch. 

Und wie sieht es dort mit den geschützten Werkstätten und den Sonderschulen aus?

Neuseeland hat erheblich mehr Massnahmen um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen in regulären Arbeitsprozessen teilhaben. Sie sind nicht auf geschützte Werkstätten beschränkt. Und die Kinder mit Behinderungen sind stärker in Regelklassen eingebunden.

Der Fokus liegt auf individuellen Unterstützungsmassnahmen, die gewährleisten, dass die Menschen mit Behinderungen direkt in der Gesellschaft leben.     

Sie sind bereits in der zweiten Amtszeit des UNO-Ausschusses. Was war bis jetzt Ihr persönliches Highlight? 

Unser Ausschuss besteht aus 18 Mitgliedern. Davon haben 15 eine Behinderung. Sie kommen aus der ganzen Welt, von allen Kontinenten. Mein persönliches Highlight ist zu sehen, wie diese sehr unterschiedlichen Menschen intensiv für das Ziel einer möglichst inklusiven Gesellschaft zusammenarbeiten.