Gabriela Pozzi, eine Tetraplegikerin, sitzt in einem elektrischen Rollstuhl, der mit einem armähnlichen Assistenzroboter ausgestattet ist. Dieser Roboterarm ist am Rollstuhl befestigt und verfügt über mehrere Gelenke sowie eine Greifvorrichtung. Vor Pozzi steht ein Tisch mit einem Apfel. Der Roboterarm, den sie über ein Tablet steuert, greift präzise nach dem Apfel. Im Hintergrund stehen zwei Betreuer des BFH-FAIR Teams, die den Vorgang beobachten. Dieses Training findet im Rahmen der Vorbereitungen für den Cybathlon 2024 statt, einen internationalen Wettbewerb, bei dem Teams alltagstaugliche Assistenztechnologien für Menschen mit Behinderungen entwickeln und testen. Bildnachweis: ETH.

Gabriela Pozzi, Pilotin des BFH-FAIR Teams, steuert im Rollstuhl einen Assistenzroboter während des Trainings für den Cybathlon 2024. Das Team der Berner Fachhochschule entwickelt den Roboter, um Menschen mit Behinderungen im Alltag zu unterstützen. Bildnachweis: ETH.

Es ist Freitagnachmittag um 13 Uhr - direkt oberhalb der Gleise, dort wo die Züge aus der Romandie in Bern einfahren, findet im sogenannten BFH Movement Lab ein Training der besonderen Art statt. Innovationen für Menschen mit Behinderungen werden hier entwickelt und getestet, bis sie Ende Oktober 2024 gegen technische Tüfteleien aus aller Welt «antreten». Die Idee dahinter: den Alltag von Menschen mit Behinderungen erleichtern.  

In Zusammenarbeit von Ingenieur:innen, Physiotherapeut:innen und Menschen mit Behinderungen hat das Team BFH-FAIR der Berner Fachhochschule einen Assistenzroboter entwickelt. Dieser ist nicht etwa menschensgross, sondern ein armähnliches Konstrukt, welches sich am Rollstuhl befestigen lässt. So auch bei Gabriela Pozzi, der Pilotin des Roboters. Pozzi ist Tetraplegikerin und im Alltag auf Unterstützung angewiesen. Aus Eigeninteresse, aber auch um den technischen Fortschritt zu unterstützen, nimmt sie als Pilotin mit BFH-FAIR am Cybathlon teil. 

Der Alltag als spielerischer Wettkampf

Das Training beginnt. Damit sich Gabriela Pozzi und das heute vierköpfige Team vor Ort mit dem Roboter vertraut machen können, haben sie den Parcours mit den zehn Aufgaben nachgestellt, die es auch am Cybathlon zu lösen gilt. 

Zuerst muss Pozzi ein Paket aus einem Briefkasten nehmen und es auf dem Tisch deponieren. Dazu fährt sie vor den Briefkasten, der Roboter öffnet die Tür und erkennt durch seine eingebaute Kamera das Paket. Via Tablet kann Pozzi bestätigen, dass der Roboter das richtige Objekt erkannt hat. Er greift zu und zieht das Paket heraus. Dabei berührt er die Wände, der Briefkasten beginnt zu schaukeln. 

« Beim Wettkampf geht es nicht nur um die praktische Ausübung der Aufgaben, sondern auch um die Taktik dahinter. »

Prof. Dr. Gabriel Gruener, Technischer Leiter & Dozent für Robotik

«Das wäre am Cybathlon ein Fail», erklärt Prof. Dr. Gabriel Gruener, technischer Leiter und Dozent für Robotik am Departement Technik und Informatik der Berner Fachhochschule. Die Regeln sind knallhart: Der Roboter darf keine Gegenstände umwerfen und die Pilotin darf nicht mit der eigenen Körperkraft nachhelfen. Einzige Unterstützung ist eine aus dem Team ausgewählte Person, die mit der Pilotin beim Wettkampf interagieren und ihr Tipps geben darf.

Weiter geht es mit der nächsten Aufgabe: Eine Zahnbürste aus dem Glas greifen und an die Lippen führen. Es ist still im Raum, alle sind hoch konzentriert und arbeiten speditiv. Gruener erklärt: «Für zehn Aufgabe haben wir zehn Minute Zeit. Überspringen wir eine davon, dürfen wir später nicht zurückkehren.» Beim Wettkampf gehe es somit nicht nur um die praktische Ausübung der Aufgaben, sondern auch um die Taktik dahinter.

«Wir müssen uns entscheiden, welche Aufgaben wir allenfalls weglassen, um keine Zeit und Punkte zu verlieren. Denn einige Aufgaben sind für Roboter und Pilotin schwieriger als andere», so Gruener. Schwierig sei beispielsweise diejenige Aufgabe, bei der Salz und Öl aus einem Schrank auf den Tisch gestellt werden müssen. Der Roboter darf nur ein Objekt auf einmal greifen. So muss Pozzi sich zweimal vor dem Schrank positionieren, der Roboter das Objekt erkennen und fassen, und Pozzi danach zum Tisch zurückfahren. Das benötigt Zeit und Präzision.

Mensch und Technik im Zusammenspiel 

Viele der Aufgaben sind fast vollständig in der Software des Roboters vorprogrammiert, Pozzi muss lediglich deren Ausführung bestätigen. Darin steckt wertvolle Vorarbeit des Teams. Jede Position des Roboters ist programmiert, ein idealer Winkel wurde vorab stundenlang ausprobiert. Das soll am Wettkampf Zeit sparen. Bei anderen Aufgaben wie dem Wäsche aufhängen oder dem Geschirr ausräumen ist Pozzis Feinmotorik gefragt. 

« Morgens brauche ich Unterstützung beim Aufstehen. Diese Assistenzperson stellt mir am Schluss ihres Einsatzes, also ca. um 9.30 Uhr, das Mittagessen hin, da ich bis abends allein zuhause bin. Der Roboter könnte mir dann das Mittagessen aus dem Kühlschrank nehmen, wenn ich auch wirklich Hunger habe. »

Gabriela Pozzi, Pilotin

Nach knapp 30 Minuten Testen, Wiederholen und Besprechen ist der erste Durchlauf zu Ende. Einige Aufgaben liefen rund, bei anderen ist der Roboter vom Griff der Geschirrspülmaschine abgerutscht, hat ein Objekt nicht richtig erkannt oder ein Softwarefehler ist aufgetreten. 

Nun braucht Gabriela Pozzi eine Pause, denn der Parcours erfordert von ihr höchste Konzentration. Dennoch würde sie den Assistenzroboter umgehend in ihren Alltag integrieren. Vor allem mit kleinen Hilfeleistungen könnte der Roboter sie stark entlasten: «Morgens brauche ich Unterstützung beim Aufstehen. Diese Assistenzperson stellt mir am Schluss ihres Einsatzes, also ca. um 9.30 Uhr, das Mittagessen hin, da ich bis abends allein zuhause bin. Der Roboter könnte mir dann das Mittagessen aus dem Kühlschrank nehmen, wenn ich auch wirklich Hunger habe.»Anja Raab, Leiterin des gesamten Projektes BFH-FAIR, pflichtet Pozzi bei: «Es geht uns nicht darum, mit dem Assistenzroboter pflegerische Leistungen zu ersetzen. Vielmehr soll er dort Unterstützung bieten, wo Kurzfristigkeit gefragt ist – wie etwa beim Jacke anziehen, beim Aufheben von heruntergefallenen Gegenständen oder beim Öffnen und Schliessen von Türen.» 

Visionen und Visualisierungen

Vor rund anderthalb Jahren war Gabriela Pozzi als Pilotin bereits an der Pre-Challenge des Cybathlons. Dort erlebte sie Schreckensmoment, erzählt sie ihrem Coach Bruno Burkhard, der in der Trainingspause zum Einsatz kommt. Er begleitet Pozzi in der mentalen Vorbereitung auf den Wettkampf. Am meisten Sorgen mache ihr, dass die Software sie wie damals im Stich lasse, so Pozzi. Eine Visualisierung des bevorstehenden Wettkampfes soll laut Burkhard bestärken. Nach der angeleiteten Gedankenreise lächelt Pozzi. «Es kommt gut», meint sie leise, aber stolz.

« ‹Es kommt gut›, meint sie leise, aber stolz. »

Kim Pittet, Reporterin ohne Barrieren

In der Zwischenzeit hat das Team besprochen, wo Vereinfachungen in der Programmierung vorgenommen werden können und welche Aufgaben noch mehr geübt werden müssen. Es geht weiter mit der zweiten Trainingseinheit, der Zeitplan ist eng getaktet – das Team will schliesslich gewinnen. Dahinter stecke aber viel mehr, so Gruener. «Mit der Anmeldung beim Cybathlon haben wir einen gewissen Zeitdruck in der Entwicklung. Denn unser Ziel ist es, ein Produkt zu erschaffen, wovon Menschen mit Behinderungen wirklich profitieren.»

Auch wenn der jetzige Roboter mit seinem Materialpreis von circa 50 000 Franken wohl der Rolls-Royce unter den Hilfsmitteln wäre, könnte er dennoch über die Zeit hinweg menschliche Hilfeleistungen ersetzen, die aufsummiert ebenfalls eine Menge Geld kosten. Angestrebt würden zukünftig Materialkosten von 12 000 Franken. «Wir stehen bereits in Kontakt mit der IV, die offen gegenüber dem Einsatz von Robotern ist», erzählt Raab. Erste Testrunden des Assistenzroboters im Alltag von Menschen mit Behinderungen hat die Berner Fachhochschule für das kommende Jahr geplant. 

Cybathlon

Cybathlon ist ein Non-Profit-Projekt der ETH Zürich. Dort treten Entwickler:innenteams aus der ganzen Welt gegeneinander an. Sie erschaffen alltagstaugliche Assistenztechnologien mit und für Menschen mit Behinderungen. Der Wettbewerb besteht aus acht verschiedenen Disziplinen. Die jeweiligen Aufgaben sind so gestaltet, dass sie alltägliche Tätigkeiten widerspiegeln, die für Menschen mit Behinderungen eine Herausforderung darstellen. Beim Lösen der jeweiligen Aufgaben wird deutlich, wie gut die entwickelte Technologie die Pilot:innen im Alltag unterstützen.

Der diesjährige Cybathlon findet vom 25.–27. Oktober 2024 in der SWISS Arena in Kloten statt. Tickets gibt es hier oder direkt vor Ort an der Tageskasse.