Am 7. Dezember 2022 hat der Grosse Rat des Kantons Bern erstmals über das Behinderten-leistungsgesetz, BLG, beraten. Mit diesem Gesetz soll das Selbstbestimmungsrecht der Menschen mit Behinderung gestärkt werden, indem sie selber wählen können, wie und wo sie leben, in einem Heim oder zu Hause mit Unterstützung. Neu ist auch, dass Angehörige von Menschen mit Behinderung, die Leistungen erbringen, entschädigt werden können. Mit einer Bedarfsabklärung soll individuell bemessen werden, wie viel Unterstützung die jeweilige Person mit Behinderung benötigt. Auf Basis dieser Abklärung kann sich die Person Unterstützungsleistungen einkaufen.

Simone Leuenberger sitzt seit Juni 2022 für die EVP im Grossen Rat. Sie ist im Rollstuhl und hat selber Assistenzpersonen angestellt. Leuenberger hat die Debatte um das BLG nicht nur als Grossrätin hautnah miterlebt, sondern sie ist auch in der vorberatenden Kommission tätig.

Reporter:innen ohne Barrieren hat Grossrätin Simone Leuenberger für ein Interview über die erste Lesung zum BLG eingeladen.

 

Frau Leuenberger, wie haben Sie diese erste Ratsdebatte zum BLG erlebt?

Es war sehr interessant, so viele Stimmen von Ratsmitgliedern zum Thema Behinderung zu hören. Auch bin ich froh, dass das Gesetz grundsätzlich unbestritten ist. Schade finde ich, dass der Einbezug von Menschen mit Behinderungen bei der Umsetzung des BLGs, wie ihn die UNO Behindertenrechtskonvention BRK vorsieht, im Grossen Rat keine Mehrheit gefunden hat.

Sie sind Mitglied in der vorberatenden Kommission, die auch Änderungsanträge zu diesem Gesetz eingebracht hatte. Längst nicht alle wurden im Rat angenommen. Wie war das für Sie?

Da ich bereits in der vorberatenden Kommission mitarbeiten durfte, kannte ich die Mehrheitsverhältnisse schon ungefähr. Und so war ich vielleicht ein bisschen weniger enttäuscht als die vielen Zuhörenden mit Behinderung, die auf der Tribüne mitbekommen haben, wie viele Anträge abgelehnt wurden.  Ich hatte mir auch fest vorgenommen, die Debatte nicht zu nahe an mich herankommen zu lassen. Wir haben dennoch einige Punkte in die Kommission zurückweisen können. Das heisst, wir können noch einmal über sie sprechen. Vielleicht finden wir den einen oder andern Kompromiss, der besser für Menschen mit Behinderungen ist, als die ursprüngliche Lösung des Regierungsrates. Andere Punkte konnten wir bereits in der Kommission durchbringen, diese wurden in der Debatte gar nicht mehr erwähnt.

Sie haben in der Kommission eingebracht, dass Assistenzleistungen nicht nur innerhalb des Kantons Bern finanziert werden, wie es der Regierungsrat vorgeschlagen hatte.

Ja, das ist richtig. Der Vorschlag des Regierungsrats hätte bedeutet, dass der Kanton Bern keine Dienstleistungen bezahlt hätte, sobald eine Person mit Behinderung eine Reise in einen anderen Kanton unternommen hätte.  In der Kommission habe ich das eingebracht und sogar der Regierungsrat war mit mir einig, dass dies eine unnötige Einschränkung wäre. Dieser Punkt war im Rat unbestritten und wurde deshalb ohne Abstimmung ins Gesetz übernommen

Leistungen soll es geben für Menschen, die einen bestimmten Minimalbedarf an Unterstützung brauchen, und ebenso ist eine Obergrenze vorgesehen. Diese Limiten waren im Rat umstritten.

Ja, im Gesetz sind obere und untere Limiten vorgesehen. Nun einigten wir uns im Rat darauf, dass es in gewissen Fällen eine Einzelfallwürdigung und eine angemessene Bedarfsdeckung gibt. Die Ober- und Untergrenzen sind daher nicht so starr zu verstehen.

Welche Beschlüsse, die bei der ersten Lesung getroffen wurden, stören Sie?

Nicht einverstanden bin ich, dass der Kanton die Wahl des Leistungserbringers aufgrund des Bedarfs einschränken kann. Das heisst, dass der Kanton in Einzelfällen bestimmt, ob ein Mensch mit Behinderung ambulant wohnen darf oder in ein Heim muss. Wie stark der Kanton von dieser Möglichkeit Gebrauch machen wird, lässt sich zwar nicht absehen. Aber ich finde es sehr störend, wenn Menschen mit Behinderungen nicht selbst entscheiden dürfen, für welche Unterstützungsform sie das Geld einsetzen, das sie vom Kanton erhalten.

Ein weiterer Punkt, der mich stört, ist die mögliche Kostenbeteiligung der Menschen mit Behinderungen. Denn es geht hier um behinderungsbedingte Mehrkosten, wie eine Assistenzleistung. Da ist es fehl am Platz, dass sich Menschen mit Behinderung an den Kosten beteiligen müssen.

Das Gesetz will auch Angehörige für ihre Unterstützungsleistungen entschädigen. Gegen diese Neuerung gibt es aber skeptische Stimmen. Was sagen Sie denen?

Denen sage ich, dass Personen mit Behinderungen einen Unterstützungsbedarf haben.  Dieser wird abgeklärt und muss ja sowieso gedeckt werden. Darum kommt es nicht teurer, wenn Angehörige die Unterstützungsleistung übernehmen. Im Gegenteil: Je mehr Leute Unterstützung leisten dürfen, desto grösser ist die Chance, dass eine Person mit Behinderung nicht ins Heim muss oder sogar aus dem Heim ausziehen kann. Damit würde der Kanton sehr viel Geld sparen.

Denn solange eine Person im Heim lebt, gehen die Kosten fast vollständig zulasten des Kantons. Lebt eine Person aber zu Hause, so zahlt der Bund mit der Hilfslosenentschädigung und dem Assistenzbeitrag viel Geld an die ambulante Versorgung. Allein die Hilfslosenentschädigung ist für eine Person zu Hause 4 mal höher als im Heim. Der Kanton Bern verschenkt also bei einer Heimunterbringung pro Person und Monat mehrere tausende Franken.

Menschen mit Behinderungen konnten sich beim Behindertenkonzept des Kantons einbringen. Sie sagen, das genüge nicht. Könnten Sie das etwas ausführen?  

Gemäss Bundesamt für Statistik leben 20% der Bevölkerung mit einer Behinderung. Im Grossen Rat bin ich eine von 160. Das reicht bei Weitem nicht.

Ich bekomme vor jeder Session mit, wie andere Verbände sich in Debatten einbringen, die sie betreffen. Sie schicken uns einen sogenannten Sessionsbrief, in dem steht, was ihnen wichtig ist. Sie nehmen Stellung zu den Traktanden, die wir beraten werden. So kenne ich die Position der Interessenverbände. Von den Behindertenorganisationen gibt es nichts dergleichen.

Die Kantonale Behindertenkonferenz KBK hat für die BLG-Umsetzung eine Begleitgruppe mit Menschen mit Behinderungen vorgeschlagen. Damit wäre ihr Einbezug und ihre Mitwirkung beim BLG besser gewährleistet. Aber wie gesagt, ist dieses Anliegen von der Mehrheit des Grossen Rats verworfen worden.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum es von den Behindertenverbänden kein solches Lobbying gibt?

Es fehlen den Behindertenverbänden schlichtweg die Ressourcen, um sich in alle Themen einzuarbeiten und sich zu überlegen, was sie für Auswirkungen auf Menschen mit Behinderungen haben. Das wäre aber wichtig, weil Menschen mit Behinderungen sonst schlicht und einfach vergessen gehen. Der Kanton Bern hat auch keine verwaltungsinterne Fachstelle für Menschen mit Behinderungen. Hinzu kommt, dass das Thema Behinderung in der Verwaltung nicht als Querschnittsthema betrachtet wird. Behinderung ist nur in der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion oder allenfalls in der Direktion für Inneres und Justiz, wenn es um die KESB geht, ein Thema. In der Wirtschaft-, Energie und Umweltdirektion, beispielsweise, ist Behinderung kein Thema, obwohl zum Beispiel der bevorstehende Strommangel sehr wohl eine grosse Auswirkung auf Menschen mit Behinderung haben kann.

Was möchten Sie als Grossrätin den Menschen mit Behinderungen zur laufenden Debatte über das BLG sagen?  

Ich möchte sie auffordern, dass sie sich über das BLG informieren und dass sie mit so vielen Leuten wie möglich darüber sprechen sollen. Es ist erschreckend, wie wenig die Grossrätinnen und Grossräte über die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen wissen. Geht es um andere Themen, geht der Kenntnisstand viel weiter. Das ist nicht nur schade, sondern es verhindert auch eine fundierte Diskussion und Lösungsfindung.

Wie es nach der Debatte vom 7. Dezember 2022 weitergehen wird

Das BLG geht jetzt zur Überarbeitung zurück in die Kommission. Sie hat verschiedene Anträge vom Grossen Rat erhalten. Nach Leuenberger geht es vor allem um 5 Punkte.

Punkt 1: Das BLG ist nur für Erwachsene. Kinder können keine Assistenzleistungen beziehen. Dabei müssen Kinder bzw. Jugendliche auch lernen, wie man mit Assistenz lebt. Deshalb sind Assistenzleistungen für Kinder und Jugendliche ein Diskussionsthema.

Punkt 2: Beistände werden nicht entschädigt, wenn sie Mehraufwendungen haben, weil eine verbeiständete Person nicht im Heim, sondern ambulant lebt. Der Kanton geht in seinen Erklärungen sogar so weit, dass Berufsbeistandspersonen verweigern können, bei der Arbeitgeberrolle zu helfen. Diese Situation könnte dazu führen, dass viele mit Beistand weiterhin im Heim leben müssen.

Punkt 3: Bei der Umsetzung des BLGs sollten alle Menschen gleichzeitig eine Bedarfsabklärung durchlaufen. Dafür braucht es Ressourcen. Aus diesem Grund hat der Kanton vorgesehen, dass Personen, die im Heim leben, vom Heim abgeklärt werden. Hier könnten aber Interessenkonflikte entstehen, wenn der Leistungserbringer abklärt, wie gross die Leistungen sein dürfen und auch. wenn eine Person aus dem Heim ausziehen möchte und das Heim eine Kundin oder einen Kunden verliert.  Im Behindertenkonzept des Kantons Bern war vorgesehen, dass die Abklärungsstelle organisatorisch unabhängig ist von Leistungserbringenden und Leistungsbeziehenden. Der Regierungsrat ist von diesem Grundsatz abgewichen. Aber der Grosse Rat hat dieses Thema an die Kommission zur Bearbeitung zurückgegeben.          

Der vierte Punkt betrifft die Mobilität: Da noch sehr wenige Kantone ambulante Leistungen finanzieren, befürchtet der Kanton Bern eine Zuwanderung von Menschen mit Behinderung. Darum will er eine Wohnsitzdauer von 5 Jahren, während denen keine Leistungen aus dem BLG bezogen werden können. Dies verunmöglicht de facto die Mobilität von Menschen mit Behinderung.

Der letzte Punkt ist die Definition der Angehörigen. Um nicht unnötige Koordinationsprobleme zu schaffen, sollte der Kanton die gleiche Definition verwenden wie der Bund beim Assistenzbeitrag.

Leuenberger hofft, dass bei diesen Punkten in der Kommission konstruktive Gespräche geführt und Lösungen gefunden werden können.