Zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn in einem Raum der Pädagogischen Hochschule in Zürich: Aslihan Kartal fährt hektisch ins Zimmer, gefolgt von ihrer Assistentin. Die 25-jährige ist unter Zeitdruck, eine unklare Adresse führte zu einer kurzen Irrfahrt durch Zürich, auch der Einlass ins Gebäude erwies sich mit Rollstuhl als schwierig. Mit einem kurzen Spurt gelingt es ihr und der Assistentin alles Notwendige einzurichten: Das Abhustgerät muss an den Strom, die Jacke und der Pulli mit Unterstützung ausgezogen, der Laptop eingerichtet werden. Etwas atemlos, aber erleichtert sitzt sie pünktlich um Zehn am Pult - es kann losgehen.
Heute findet ein ungewöhnlich-gewöhnlicher Unterricht statt. Ungewöhnlich, weil viele im Rollstuhl unterwegs sind. Auch die beiden Gebärdendolmetscherinnen, welche für eine Teilnehmerin mit Hörbehinderung anwesend sind, fallen auf.
Menschen mit Behinderungen eine Stimme geben
Die Lernenden an diesem Morgen sind angehende RoB. RoB, das steht für Reporter:innen ohne Barrieren. Ziel von RoB ist es, die Sichtweise von Menschen mit einer Behinderung direkt in die Medienwelt einzubringen, indem sie eigene Texte, Videos oder andere Formate kreieren. Damit sollen sie Themen, Wissen und Anliegen einbringen, die bisher medial zu kurz kamen. Üblich ist bisher, dass Herausforderungen und Anliegen mittels Vertreter – beispielsweise durch Fachleute der sozialen Arbeit oder nichtbehinderte Journalist: innen – in die Medienwelt eingebracht werden. Das bedeutet, dass oft über statt mit Menschen mit Behinderung gesprochen wird. Das innovative Projekt RoB - initiiert vom Verband Inclusion Handicap – will dies ändern und Menschen mit Behinderung befähigen, sich aktiv in der Medienwelt zu beteiligen.
Ungewöhnlich ist der Unterricht auch, weil er inklusiv erfolgt. Das heisst, dass alle Teilnehmenden trotz unterschiedlicher schulischer Voraussetzungen gemeinsam unterrichtet werden. Einige bringen bereits Medienerfahrung mit: Eine Teilnehmerin publiziert regelmässig online Beiträge für eine Organisation, eine produziert Radiobeiträge, mehrere schreiben Blogs oder produzieren Videos. Andere haben eher vage Vorstellungen, wo und wie sie in Zukunft im Bereich Journalismus tätig sein möchten. In sechs Ausbildungstagen erhalten die Reporter: innen eine Basis an Wissen und Werkzeugen, zum Beispiel gibt es neben dem heute anstehenden Modul der Auftrittskompetenz auch noch eines für Recherche und Text. Später können die ausgebildeten RoB ihr Fachwissen noch weiter vertiefen und sollen von Mentor: innen auf ihrem individuellen beruflichen Weg begleitet werden.
Speditiv und kreativ am Werk
An diesem Morgen werden die Teilnehmenden ins kalte Wasser geworfen. Sie sollen in 30 Minuten je ein dreiminütiges Referat vorbereiten. Die halbe Stunde, um diese Aufgabe zu erledigen, ist sportlich angesetzt: Nicht nur muss ein guter Text produziert werden, auch der Auftritt soll überzeugen. Es herrscht konzentrierte Stimmung im Raum. Die einen schreiben von Hand, andere tippen Texte auf ihre Laptops, einige proben bereits in den Gängen der Hochschule ihren Auftritt.
Die beiden Dozenten Alex Oberholzer und Peter Neumann sind Medienprofis, erfahrene Moderatoren bei SRF. Sie geben ihr langjähriges Fachwissen in Workshops weiter. Mit Hilfe von Videoaufnahmen und anschliessenden Analysen mit Feedbacks lernen die acht RoB Studierenden ihre Auftritte zu verbessern. Aber wie gestalten die beiden Dozenten den inklusiven Unterricht? Kann es überhaupt gelingen, Menschen mit so unterschiedlichen Lernerfahrungen gemeinsam zu unterrichten? Alex Oberholzer überrascht: «Wir haben uns nicht anders vorbereitet als für nichtbehinderte Menschen auch. Wir wollten die Latte nicht schon zum Voraus tiefer hängen. Unsere Erfahrung zeigt, dass Menschen – egal ob mit oder ohne Behinderung - gar nicht so unterschiedlich sind. Wir schauen am Kurstag selbst, ob Anpassungen nötig sind und zeigen uns flexibel.» Also doch ziemlich gewöhnlich dieser Unterricht?
Es ist später Vormittag, bis alle Kurzreferate im Kasten sind und die Feedbackrunde beginnt. Alle Videos werden angeschaut und die individuellen Fortschritte von den Dozenten bewertet. Alex Oberholzer lobt einen Teilnehmer: «Hier sieht man ganz frappant, die 180 Grad Wendung gegenüber der Lösung der ersten Aufgabe. Da mussten wir dir den Vorwurf machen, dass du dich besser hättest vorbereiten müssen. Du hast diesmal einen wahnsinnig guten Text gemacht und ihn auf eine berührende Art vorgetragen.» Generell wird an diesem Tag viel gelobt, aber auch viel kritisiert. Rückmeldungen erfolgen aber nicht nur von Seite der Dozenten, auch die Teilnehmenden untereinander geben sich Feedback.
Diversität bringt entscheidenden Vorteil
In der Pause fällt das Gespräch auf das Spezialwissen der Teilnehmenden: Alle sind sich einig, dass sie nicht nur persönliche Erfahrungen, sondern auch Fachwissen im Umgang mit Behinderung mitbringen. Fachwissen, das sich andere Journalist: innen erst mühsam aneignen müssen. Wie funktioniert ein IV-Verfahren? Wie gelingt die Inklusion im ersten Arbeitsmarkt? Wie inklusiv sind Schulen und was braucht es, damit die Ausbildung gelingt? Die Erfahrungen der Teilnehmenden sind vielfältig: Während einige sowohl Schule als auch Ausbildung im zweiten Arbeitsmarkt durchlaufen haben, haben andere öffentliche Schulen und die Ausbildung im 1. Arbeitsmarkt absolviert, eine Lehre gemacht oder studiert.
Nach zwei Tagen Unterricht in Auftrittskompetenz sind die Teilnehmenden spürbar müde. Der Unterricht war inhaltlich intensiv und die praktischen Übungen fordernd. Was nehmen die RoB nun mit in ihren Alltag? Mirjam Münger, Mitarbeiterin einer Beratungsstelle für Schwerhörige und Gehörlose, kann das Gelernte direkt in ihrem Berufsalltag einsetzen: «Ich fühle mich nun sicherer, wenn ich eine Medienanfrage erhalte. Zuvor war ich unsicher, wenn eine Anfrage - beispielsweise vom Lokalfernsehen - kam. Nun weiss ich, wie ich mich in kurzer Zeit vorbereiten kann. Die Dozenten haben uns neben den Übungen viele alltagstaugliche Tipps mit auf den Weg gegeben.»
Aslihan Kartal hat an diesen zwei Tagen neben Referatsübungen auch noch ein Video zum Thema Barrierefreiheit gedreht. Dass diese Tage inhaltlich gut gefüllt sein könnten, hatte sie schon zum Voraus geahnt. Sie ist deshalb froh, hat sie sich den kommenden Montag präventiv frei genommen bei der Arbeit. Müde aber erfüllt, packt sie ihren Laptop und das Abhustgerät wieder ein. Das Taxi wartet bereits.
In drei Wochen werden die angehenden Reporter: innen das nächste Modul zum Thema Recherche besuchen. Bis dahin haben sie Zeit, das Gelernte setzen zu lassen und im Alltag weiter zu erproben. Zwischen den Modulen arbeiten sie an Beiträgen zu selbstgewählten Themen. Diese werden auf der eigens dafür kreierten Plattform inclusive-media.ch veröffentlicht. Den angehenden Reporter: Innen wird also nicht langweilig. In den nächsten Jahren sollen so zahlreiche Artikel und Medienbeiträge entstehen.