Silja Gruner. Bildquelle: Nathi Jufer
Nach den Themen globale Gerechtigkeit oder der Definition von Normalität steht die diesjährige Ausgabe unter dem Fokus «How did we get here?». Wo sind wir denn genau?
Symbolisch sind wir an der Kippe. Wir reiten die Welt in verschiedenen Bereichen zugrunde. Über Kriege und Klimakrise bis hin zu politischen Rechtsrutsche in manchen Regionen. Es wirkt fast so, als bräuchte es nicht viel mehr, bis es eskaliert. Und in manchen Regionen wirkt es so, als wären wir schon über die Kippe gegangen.
Ist unsere Gesellschaft demnach verloren?
Nein, das glaube ich nicht. Wenn wir die Weltlage im Kontext von unserem Festival betrachten, dann haben wir die Möglichkeit, zurückzuschauen und uns zu fragen, wo wir herkommen. Zu sehen, was auf dem bisherigen Weg geschehen ist, gibt uns die Chance zu lernen. Und uns zu fragen, ob es wieder einen Weg zurück, oder gar nach links oder rechts gibt.
Dann sind die Produktionen also ein Weckruf.
Ich denke, man kann sehr viel aus den Produktionen lernen. Einerseits aus historischer Sicht, aber auch in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen. Mit unserem vielgefächerten Angebot schauen wir einerseits zurück und gehen andererseits der Frage nach, was wir mit den Erkenntnissen in Zukunft machen.
« Wir wollen ein Festival sein, das für alle Menschen zugänglich ist. Deshalb bieten wir bei manchen Vorstellungen Kinderbetreuung, Audiodeskriptionen, Verdolmetschung in Gebärdensprache und Relaxed Performances an, oder haben Special Check-Ins und einen Access Friend. »
Wie nehmen die jeweiligen Performances bei einem solch breitgefächerten Programm Bezug auf diese grossen Fragen?
Grundsätzlich sind sie alle mit der Thematik verlinkt, manche offensichtlicher als andere. Said Reza Adib und Thomas Bellinck beispielsweise erzählen im Stück «The Voice of Fingers» von der Flucht aus Afghanistan nach Finnland und verknüpfen damit die Geschichte der Eugenik. «El Pacto del Olvido» von Sergi Casero Nieto hingegen geht zurück in die Diktatur Spaniens und behandelt das Vergessen der Verbrechen. Das Ereignis kann aber auch weniger lang zurück liegen, wie beim Stück «Mothers A Song For Wartime» von Marta Górnicka, die mit dem Ukrainekrieg eine junge Geschichte inszeniert. Und dann gibt es auch Stücke ohne politische Verbindung. Bei «Arch» von Kaleider wird ein Bogen aus Betonklötzen und Eis gebaut. So nehmen sie uns mit auf den Weg des Zerfalls. Da geht es mehr um ein Gefühl.
Das Festivalprogramm ist gespickt mit Partys, einer Philosophiestunde, einem Silent Reading Rave, einem PingPong-Abend oder auch einem Sonntagsbrunch. Wieso sind all diese Formate auch Teil des Theaterfestivals?
Natürlich liegt der Fokus des Programms auf internationalen, hochkarätigen Theaterstücken. Da sich unser Festival aber über zwei Wochen erstreckt, können wir Programmpunkte integrieren, die keine theatrale Form haben. Diese wiederum verweben die jeweiligen Hauptpunkte und sollen ein Gefühl des Zusammenseins vermitteln. Und nicht zuletzt wollen wir dadurch unterschiedliche Plattformen für verschiedene Interessensfelder bieten.
Die Diversität des Programms zeigt sich nicht nur in den vielseitigen Formen und Inhalten. Denn auch die Menschen auf der Bühne variieren in Bezug auf Geschlecht, Herkunft, Bekanntheit und, ob sie mit Behinderungen leben oder nicht. Wie sieht's mit dem Publikum aus?
Wir wollen ein Festival sein, das für alle Menschen zugänglich ist. Deshalb bieten wir bei manchen Vorstellungen Kinderbetreuung, Audiodeskriptionen, Verdolmetschung in Gebärdensprache und Relaxed Performances an, oder haben Special Check-Ins und einen Access Friend, also eine Person, die einem Fragen zur Barrierefreiheit beantwortet und bei Anliegen diesbezüglich Unterstützung bietet. Unsere Spielorte sind zudem alle barrierefrei zugänglich.
« Wir wollen nicht davon ausgehen, dass das, was wir machen, so einfach gut ist. Und hier möchte ich betonen: Wir engagieren diese Menschen. Sie sollen nicht - wie noch so oft üblich - Gratisarbeit leisten. »
Die Liste der barrierereduzierenden Massnahmen ist enorm lang. Wie entscheidet ihr, ob eine und falls ja, welche Massnahme umgesetzt wird?
Wir priorisieren nicht, sondern setzen um, was machbar ist. Es bestehen beispielsweise kaum Dolmetscher:innen, die von Spanisch in die Deutschschweizerische Gebärdensprache übersetzen. Und dann gibt es Momente, bei denen Audio-Deskriptor:innen uns mitteilen, dass sie ein bestimmtes Stück ohne starke Qualitätseinbussen nicht umsetzen können und wir uns deshalb gegen eine Audiodeskription entscheiden. Das gleiche gilt für die Relaxed Performances, also eine entspannte Aufführung, Da wir die jeweiligen Produktionen einladen, wollen wir die Inhalte auch nichts verändern. So können wir beispielsweise die Lichtverhältnisse nicht zu stark beeinflussen, die für eine Relaxed Performance von Bedeutung wären.
Auf welche Schwierigkeiten trefft ihr bei den Umsetzungen noch?
Bei manchen Künstler:innen braucht es relativ viel Kommunikation, wenn sie noch nicht häufig mit solchen Massnahmen in Berührung gekommen sind. Oft bestehen Unsicherheiten oder Befürchtungen, dass an ihrem Stück zu viel verändert wird. Bei rund 95 Prozent stossen wir aber auf Wohlwollen. Zudem sehen wir über die letzten Jahre hinweg positive Entwicklungen: Was früher zum Teil schwierig war, ist heute schon fast selbstverständlich.
Werden diese Massnahmen nach dem Festival evaluiert?
Ja. Besonders wichtig für uns ist dabei die lose Community, die wir aufgebaut haben. Wir versuchen jeweils unsere Massnahmen genau mit denjenigen Menschen auszuwerten, die diese in Anspruch nehmen. Wir wollen nicht davon ausgehen, dass das, was wir machen, so einfach gut ist. Und hier möchte ich betonen: Wir engagieren diese Menschen. Sie sollen nicht - wie noch so oft üblich - Gratisarbeit leisten.
Was bedeutet die Umsetzung all dieser Massnahmen für ein Festival? Denn das ist ja immer auch mit grossem Aufwand verbunden.
Einzelne Dinge mehr, andere weniger. Aber weil wir das schon so lange machen, müssen wir auch nicht immer überall das Rad neu erfinden. Es gibt viel zu tun, ja! Aber hier sprechen wir von einer Basis, die wir wirklich wollen, die wir auch leben. Die Barrierefreiheit soll nicht nur ein Aushängeschild sein, sondern auch eine innere Grundhaltung widerspiegeln. Deshalb ist es auch eine bewusste Entscheidung, die Zeit und die finanziellen Ressourcen zu investieren.
« Die Barrierefreiheit soll nicht nur ein Aushängeschild sein, sondern auch eine innere Grundhaltung widerspiegeln. »
In jeder Ecke von auawirleben steckt Diversität. Was fehlt, damit es noch diverser wird? Geht das überhaupt?
Natürlich könnte man immer noch diverser sein, zum Beispiel sind wir ein weisses Team und haben immer noch mehr weisse und able-bodied Menschen auf der Bühne. Da haben wir sicher Luft nach oben. Aber: Wir wollen nicht aufhören, uns weiterzuentwickeln.
Theaterfestival auawirleben
Das Theaterfestival auawirleben findet vom 22. Mai – 2. Juni 2024 an verschiedenen Austragungsorten in Bern statt. Infos zum Festival und dem Programm finden Sie hier: auawirleben.ch