Gruppenfoto der Lagerteilnehmer:innen

Teilnehmer:innen und Betreuer:innen des Lagers der SMG mit dem Kloster Einsiedeln im Hintergrund. Bildquelle: Boostr.

Silvia Knaus, eine Teilnehmerin, gerät ins Schwärmen: «Einsiedeln ist mit den umliegenden Bergen und dem Kloster einfach wunderschön.» Sie lebt alleine in einer Wohnung inmitten der Stadt Zürich und gönnt sich nun einen Tapetenwechsel.

Die Schweizerische Muskelgesellschaft (SMG) lädt jedes Jahr Menschen mit Muskelerkrankungen ein, sich für eines oder mehrere ihrer Lager anzumelden. Für diese sucht sie Personen, die sich als Betreuer:in oder als Pfleger:in engagieren. Sie werden für Ihre Einsätze entschädigt.

Eines dieser Lager für Erwachsene fand vom 15. bis 29. Juli 2023 in Einsiedeln statt. Dort zieht sich Kaffeeduft durch den Raum, in dem die Teilnehmer:innen und Betreuer:innen sich unterhalten oder in ein Kartenspiel vertiefen.

Bunt zusammengewürfelte Gruppe

Knaus, eine Teilnehmerin mittleren Alters, bewegt sich in ihrem Rollstuhl durch die lachende und diskutierende Gruppe. Sie benötigt zu Hause für alltägliche Verrichtungen, wie Aufstehen, sich Anziehen und dergleichen, viel mehr Zeit. Im Ferienlager schätzt sie die Unterstützung durch die Betreuer:innen und lobt sie: «Sie sind super!» Die Züricherin erklärt: «Ich habe mich dafür entschieden, allein zu wohnen. Nach dem Lager werde ich gerne wieder nach Hause zurückkehren.» Aber jetzt geniesst sie nicht nur den Ortswechsel, sondern auch die Atmosphäre. «Wir sind dieses Jahr eine kleinere Gruppe». Daher sei die Stimmung familiärer.

« Ich finde es toll, dass wir aus dem Alltag rauskommen »

Mattia Cattelan, Teilnehmer

Anders sieht die Wohnsituation bei Mattia Cattelan aus. «Ich bin in einem Wohnheim in der Region Basel zuhause», beginnt er und fährt mit Begeisterung fort: «Ich finde es toll, dass wir aus dem Alltag rauskommen.» Er kostet die Freiheiten des Ferienlagers aus, weil im Wohnheim Strukturen vorgegeben sind. So bleibt er in Einsiedeln abends länger auf. Cattelan, einer der jüngeren Erwachsenen, beteiligt sich engagiert am Kartenspiel. Sein Lachen mischt sich mit dem der Anderen. Da er häufig an Lagern teilgenommen hat, kennt er die anderen Teilnehmer:innen von früheren Lagern. Er freut sich, die bekannten Gesichter wieder zu sehen, aber auch neue kennen zu lernen. «Wir haben es lustig zusammen. Mir gefallen die Ausflüge und die Gruppenspiele wie Uno», sagt Cattelan. Zudem sehe er die Lager als eine gute Möglichkeit, mit anderen Menschen, die ebenfalls im Rollstuhl sind, zusammenzukommen. Diese Begegnungen helfen, Berührungsängste abzubauen und Mut für das Leben zu bekommen, wenn der Krankheitsverlauf sich ändert.

Auch bei Andreas Bucher, der aus der Zentralschweiz stammt, stehen die Ausflüge hoch im Kurs. Zu Hause wohnt er mit Assistenz, und er ist für alles selber zuständig, was mit ihr zusammenhängt, wie zum Beispiel Lohnabrechnungen. Er geniesst die Abwechslung. «Es macht Spass, dabei zu sein, und neue Leute kennen zu lernen!» Bucher gesellt sich mit seinem Elektrorollstuhl zur Gruppe der Kartenspielenden.

Stoos als Höhepunkt

Auf die Frage, was den Dreien am besten gefallen hat, fällt die Antwort einstimmig aus: Der Ausflug auf den Stoos bei traumhaftem Wetter sei das Highlight gewesen. Onur Akyol schliesst sich ihnen an. Er studiert Medizin und engagiert sich das zweite Mal in einem Lager der SMG, dieses Mal als Teil des Lagerteams. Auch er erinnert sich gerne an den Ausflug. «Wir waren das erste Mal als gesamte Gruppe unterwegs, weil alle mitfahren wollten.»

Cattelan sitzt im Rollstuhl, vor ihm hängt an der Wand ein grosses Papier.

Das Programm ist für Menschen im Rollstuhl auf Augenhöhe. Cattelan bestimmt selber, was er unternimmt. Bildquelle: Boostr.

Selbstbestimmung als Grundlage

Akyol erläutert, weshalb sich meistens nicht alle an einem Programmpunkt beteiligen: Im Lager bestimmen die Teilnehmer:innen selber, was sie unternehmen wollen und da die Bedürfnisse unterschiedlich sind, ergeben sich oft «Tandems», die jeweils aus einer teilnehmenden Person und einer Betreuungsperson gebildet werden. Möchten mehrere Teilehmer:innen etwas gemeinsam unternehmen, formieren sich Gruppen. So können an einem Tag verschiedene Tandems und Gruppen unterwegs sein. 

«Ich kann mich total mit den Werten und dem Leitbild der SMG identifizieren, wonach im Lager möglichst auf die Autonomie und die Bedürfnisse der teilnehmenden Personen eingegangen wird», sagt Medizinstudent Akyol. Dem schliesst sich Marc Herzog an, einer der Betreuer:innen: «Es ist einfach schön, den Teilnehmer:innen das zu ermöglichen, was sie machen möchten», sagt er. «Wir merken, wie sie sich freuen, aus sich ‘rauskommen’ und irgendwie schweben.» Das zu spüren, sei ein beflügelndes Erlebnis.

Lagereinsatz als Chance

Während Herzog seinen Betreuungs-Einsatz als Zivildienst anrechnen lässt, hat Akyol seinen ersten Lager-Einsatz im Rahmen seines Studiums als Pflegepraktikum absolviert.

Akyol empfiehlt solche Einsätze künftigen Mediziner:innen wärmstens, weil sie eine wertvolle Erfahrung seien, die Krankheiten nicht nur theoretisch kennen zu lernen. «Während des Lagers bekommst du einen Einblick in den Alltag der Teilnehmer:innen. In persönlichen Gesprächen durfte ich auch von ihren Ängsten und Sorgen erfahren.»

Aber nicht nur angehende Mediziner, sondern «für alle kann die Erfahrung sich lohnen», sagt Herzog. Alle, ob Lernende, Studierende bis hin zu Pensionär:innen, können sich auf der Website der SMG für einen Lager-Einsatz bewerben.

Grosse Hilfsbereitschaft im Team

Dass die neuen Betreuungspersonen gut unterstützt würden, ist Herzog wichtig zu betonen: «Die Kommunikation im Team ist sehr gut und offen». Man könne sich immer melden, wenn man Hilfe braucht. Es sei immer jemand da, der helfe.

Inklusion ganz praktisch

Die Leitungs-Crew hat mit Annete Plammoottil eine Selbstbetroffene in ihrem Team. Plammoottil ist gerne auf Reisen und weiss aus erster Hand, worauf dabei zu achten ist. Auf Websites, etwa von Bergbahnen, stehe oft «barrierefrei». Aber «barrierefrei» sei eben nicht immer barrierefrei. Trotzdem müsse sorgfältig abgeklärt werden, wie hoch zum Beispiel die Schwellen oder wie breit die Türen tatsächlich seien, und wie viele Elektrorollstühle Platz hätten. «Das sind alles Gedanken, die sich Rollstuhlfahrende im Gegensatz zu den Fussgänger:innen immer wieder machen müssen», erklärt Plammoottil. «Elektrorollstühle kann man nicht einfach zusammenklappen und dann wieder aufklappen.» Der angehende Arzt Akyol äussert sich dankbar über die Zusammenarbeit mit Plammoottil. So hätten sie Aktivitäten und Ausflüge besser planen können. Auf dem Programm stehe unter anderem auch ein Rätselspass in einem «Escape Room», den sich einige Teilnehmer:innen nicht entgehen lassen möchten.

Zwei Männer, einer davon im Rollstuhl, im gemeinsamen Gespräch.

Herzog und Bucher in einem angeregten Gespräch. Bildquelle: Boostr.

Vom Entschleunigen und Glücklichsein

Sich selbst bezeichnet Betreuer Herzog als einen Bewegungsfreudigen, dem es schwerfällt, länger still zu sitzen. Dass er sich in diesem Lager mehr Zeit nehmen muss, um etwas zu erklären oder nachzufragen, entschleunige ihn. Zudem werde ihm von Neuem deutlich, was es bedeutet, im Hier und Jetzt zu sein, und das, was gerade ist, zu schätzen und einfach glücklich zu sein.

Alle sollen mitmachen können

Auch wenn Knaus sich daran erfreut, dass die Gruppe im jetzigen Lager kleiner ist, bedauert sie es, dass einige nicht kommen konnten, weil sich nicht genügend Betreuer:innen gemeldet haben. Denn pro teilnehmende Person braucht es zwei Betreuer:innen, damit auch sie zwischendurch pausieren können. Knaus bekräftigt deshalb: «Es sollen alle dabei sein können, die teilnehmen wollen!»

Schönes Wetter ist bestellt

Bevor es nach Hause geht, hat die Stadtzürcherin Knaus noch einiges vor: Ausflüge auf die Berge, auf den Sattel und den Hochstuckli. Schönes Wetter dafür habe sie schon mal bestellt, verrät sie mit einem verschmitzten Lächeln.