Die National- und Ständerät:innen werden am 22. Oktober 2023 gewählt. (Bildquelle: Pro Infirmis)

In weniger als einem Monat werden wieder der National- und Ständerat gewählt. Die beiden Räte sollen die verschiedenen Bevölkerungsgruppen repräsentieren; Sprachregionen, Kantone und Parteien abbilden. Doch kaum Gehör im Parlament finden bislang Menschen mit Behinderung: Christian Lohr (CVP/TG) ist aktuell der einzige gewählte behinderte Politiker in Bern. Deshalb hat die Behindertendachorganisation Pro Infirmis nun erstmals eine Liste erstellt, mit welcher sie beeinträchtigte Menschen aus dem ganzen Parteienspektrum für den Nationalrat zur Wahl vorstellt.

Philipp Schüepp, Politikverantwortlicher bei Pro Infirmis, sagt: „Immer mehr Menschen mit Behinderung wird bewusst, dass sie noch zu oft ausgeklammert werden, wenn man von Diversität spricht, und wollen das nicht weiter hinnehmen.“ Diese Bewegung verstärke Pro Infirmis mit der Liste. Schüpp ist überzeugt: „Es gibt genügend Menschen mit Behinderung, die politisch tätig sein wollen und können.“ Das habe zum Beispiel die Behindertensession im Frühling gezeigt, an der 44 behinderte Menschen eine Resolution zur politischen Teilhabe verabschiedet hätten.

« Es gibt genügend Menschen mit Behinderung, die politisch tätig sein wollen und können. »

Philipp Schüepp, Politikverantwortlicher bei Pro Infirmis

Nicht alle Behinderungsformen sind deutlich erkennbar

Auch aus Baselland haben sich mehrere Personen auf die Liste setzen lassen. Darunter auch die ehemalige Vize-Präsidentin der Gemeindekommission Muttenz, Patrizia Tamborrini. Sie will, dass mehr Menschen mit Behinderung direkt im Parlament ihre Anliegen vertreten können: „Nur dann können wir mitbestimmen und es wird nicht über uns bestimmt.“ Die Pflegefachfrau und Autistin kandidiert für die Grünen im Baselland und engagiert sich neben Behindertenanliegen auch seit Jahren für bessere Arbeitsbedingungen und genügend Nachwuchs in der Pflege.

Patrizia Tamborrini engagiert sich für die Grünen im Baselland.

Tamborrinis Autismus ist für Aussenstehende nicht auf den ersten Blick erkennbar. Sie erzählt, sie fühle sich immer wieder unter Druck sich zu rechtfertigen, werde beispielsweise gefragt, ob sie wirklich behindert und Autistin sei. Eines ihrer zentralen Anliegen ist es deshalb, nicht-sichtbare Behinderungsformen zu thematisieren. „Ich habe schon vor langer Zeit entschieden, dass ich offen mit meinem Autismus umgehe, auch wenn das nicht immer einfach ist“, erklärt Tamborrini. Ein Outing sei generell mit dem Risiko verbunden, dass man berufliche Nachteile erlebe oder dass das familiäre Umfeld indirekt mitstigmatisiert werde.

Zu wenige Menschen mit Behinderung im Parlament

Ferdinand Pulver, Gemeinderat in Reinach und FDP-Präsident in Baselland, will sich ebenfalls politisch mit dem Thema Behinderung exponieren und hat sich deshalb auf die Liste von Pro Infirmis setzen lassen. Er sitzt seit einem Motorradunfall vor 16 Jahren im Rollstuhl. Als veritabler FDP-Politiker steht Pulver für eine sozialliberales Gedankengut. Er will sich für eine funktionierende Wirtschaft und eine gute Stromversorgung einsetzen.

Ferdinand Pulver plädiert für eine funktionierende Wirtschaft und eine gute Stromversorgung.

Zu diesen Werten gehört für den Reinacher Gemeinderat aber ebenso, dass Menschen mit Behinderungen am politischen Diskurs direkt teilhaben. „Gemessen am Anteil von 22 Prozent in der Bevölkerung ist der Anteil von Menschen mit Behinderung im Parlament zu klein“, sagt Pulver. Er wolle mit seinem Wahlkampf sensibilisieren und in der Politik dazu beitragen, dass Hürden mit Augenmass verringert würden. Konkret sieht er diese auch im Wahlkampf: Ein Wahlkampf zu betreiben koste viel Geld, Organisation und Energie. Das zu stemmen sei für Menschen mit Behinderung besonders schwierig und ohne die Unterstützung einer Partei kaum zu schaffen.

Behindertenliste reicht nicht

Doch Ferdinand Pulver sieht in der Behindertenliste auch eine gewisse Gefahr. Diese könne zum Feigenblatt werden. Denn im Grunde hätten die Menschen auf dieser Liste schlechtere Karten gewählt zu werden. „Es braucht in erster Linie Parteien, welche Menschen mit Behinderungen fördern, unterstützen und ernsthaft portieren“, findet Pulver.

« Es braucht in erster Linie Parteien, welche Menschen mit Behinderungen fördern, unterstützen und ernsthaft portieren »

Ferdinand Pulver, Gemeinderat und FDP-Präsident in Baselland

Auch Philipp Schüepp von Pro Infirmis sieht Parteien in der Pflicht, ihre internen Strukturen so zu gestalten, dass diese auch für Menschen mit Behinderung zugänglich sind. Doch dazu sei auch ein Wandel in den Köpfen nötig: "Behinderung wird heute zu oft als Schwäche gesehen, dabei haben Menschen mit Behinderungen eine grosse Expertise, die die Parteien und die Gesellschaft nutzen sollten", findet er.