Podium zum neuen Behindertenleistungsgesetz im Kanton Bern (von links nach rechts): Moderatorin Marianne Plüss, Simone Leuenberger, Iolanda Aegerter und Bjørn Marti. Bildnachweis: Stephanie Matti
Es war eines der Hauptthemen am Abschlussanlass des Kantons Bern zu den Nationalen Aktionstagen Behindertenrechte: Das neue Berner Behindertenleistungsgesetz BLG, und die damit verbundene Subjektfinanzierung. Was juristisch und sperrig tönt, bedeutet für Menschen mit Behinderungen mehr Selbstbestimmung. Dafür haben sie lange gekämpft. (siehe Box). Seit Anfang Jahr befindet sich der Kanton Bern nun in einer vierjährigen Übergangsfrist, in welcher die bisherige Objektfinanzierung ins neue System überführt wird.
Behinderte Menschen, die selbständig wohnen, können sich seit dem 1. Januar für eine Abklärung melden und erhalten so möglicherweise ergänzende finanzielle Unterstützung für ihre ambulante Versorgung. Für die Institutionen mit etwa 3300 Bewohner:innen gibt es einen Fahrplan, bis Ende 2027 sollen die letzten ins neue System überführt sein.
Steile Lernkurve
In der bisherigen Objektfinanzierung hat eine Institution in der Regel für jede:n Bewohner:in mit IV Rente eine Pauschale vom Kanton erhalten, welche zuvor mittels Leistungsvertrag mit dem Kanton vereinbart wurde. Neu erhalten Institutionen von jede:r Bewohner:in individuelle Beträge. Der Bedarf wird mittels eines individuellen Hilfeplanes, kurz IHP, ermittelt. IHP ist eine umfassende Methode, die neben dem Bereich Wohnen auch die Teilhabe in der Freizeit, bei der Arbeit oder die Mobilität abdeckt. Mit Hilfe eines Fragebogens werden in einem Abklärungsgespräch Ziele, Wünsche und benötigte Unterstützung in den verschiedenen Lebensbereichen erfasst.
« Ich hatte in den letzten Monaten eine unheimlich steile Lernkurve in Bezug auf IHP »
IHP orientiert sich an den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention, welche die Teilhabe am Leben ins Zentrum stellt. Die Methode ist komplexer als die bisher üblichen Zielvereinbarungen. Und: Sie ist auch für die Direktbetroffenen herausfordernder. Sie werden als Selbstbestimmende und Handelnde ins Zentrum gerückt.
Die Stiftung Wohnheim Öpfuböimli aus dem Oberaargau ist eine der ersten Institutionen im Kanton, welche die Umstellung durchläuft. 13 Menschen mit kognitiven, körperlichen und psychischen Behinderungen leben und arbeiten an zwei Standorten in Huttwil und Rohrbach. Sie alle erlebten diesen Frühling erstmals ein Abklärungsgespräch nach IHP, welches sie mit speziell geschulten Mitarbeitenden vom Wohnheim führten. Dieses Gespräch wurde in einfacher Sprache oder, für jene die nicht mit Sprache kommunizieren, mit Hilfe von Bildkarten geführt.
Bjørn Marti ist Heimleiter des Öpfuböimlis. Er erlebt das neue Instrument als gut, aber aufwändig: «Ich hatte in den letzten Monaten eine unheimlich steile Lernkurve in Bezug auf IHP», erzählt er. Er und sein Team hätten sehr viel Zeit investiert. Von der Beratung der Beistände, über das Erlernen von IHP, bis hin zum Abgleich mit dem Kanton.
IHP decke auch Aspekte ab, die seine Institution bisher kaum habe berücksichtigen können. Er wünscht sich zum Beispiel, den Bewohner:innen mehr Teilhabe an der Gesellschaft bieten zu können. Aktuell finde viel Betreuungsleistung innerhalb der Institution statt, für Berührungsmomente mit der Gesellschaft, mehr Ausflüge oder gar individuelle Freizeitaktivitäten, fehlten oft die Ressourcen. IHP erfrage auch den Bedarf für diese Bereiche.
Hohe Verantwortung der Bezugspersonen
Weiter erklärt er die verantwortungsvolle Aufgabe seiner Mitarbeitenden im IHP-Abklärungsgespräch: Es ginge darum, für die Bewohner:innen ein Optimum an Unterstützung und Förderung zu beantragen. «Die Betreuungspersonen müssen die Äusserungen der Bewohner:innen möglichst korrekt deuten, erfassen und durch ihre fachliche Sicht ergänzen.»
Danach wird die neu geschaffene kantonale Bedarfsprüfungsstelle BPS jedes einzelne Gesuch prüfen und eine Empfehlung ans Amt für Integration und Soziales AIS weiterleiten. Dieses wird die konkrete Leistung berechnen und den Menschen mit Behinderungen oder ihren gesetzlichen Vertretern mitteilen. Anschliessend können diese das Ergebnis prüfen und wo nötig Rekurs ergreifen.
« Manche Beistände sind über 80 und überfordert mit der digitalen Welt. »
Heimleiter Marti hofft, dass er bis im Sommer alle Fragebogen für die neue Finanzierung wird einreichen können. Wie die Bedarfsprüfungsstelle die Anträge beurteilt und bis wann er mit den neuen Leistungsgutsprachen rechnen kann, kann er nicht absehen. Aber er hegt Hoffnungen: «Wir wünschen uns, dass wir in Zukunft die Menschen besser werden fördern können. Dass es mehr finanzielle und personelle Ressourcen gibt, um echte Teilhabe zu ermöglichen.»
Holpriger Start
Am Abschlussanlass zu den Nationalen Aktionstagen Behindertenrechte war die Subjektfinanzierung im Kanton Bern Thema. Bjørn Marti tauschte sich an einem Podium mit Simone Leuenberger, Grossrätin EVP Kanton Bern und Iolanda Aegerter über den aktuellen Stand der Umsetzung der Subjektfinanzierung aus. Leuenberger lebt selbst mit einer Muskelerkrankung und hat als Grossrätin das neue Gesetz mitgeprägt. Aegerter ist Leiterin der neu geschaffenen Fachstelle für individuelle Bedarfsklärung FiB, sie und ihr Team führen Abklärungsgespräche mit selbständig wohnenden Menschen mit Behinderungen.
« Die Subjektfinanzierung hat viel Potential, es geht nun darum, dieses auszuloten. »
Alle sind sich einig, dass die Einführung holprig verläuft. Noch hat der Kanton keine einzige Leistungszusprache nach dem neuen Gesetz gesprochen. Bereits die Anmeldung auf AssistME – der Plattform, über welche alle Anträge und Leistungen abgewickelt werden – sei für viele Menschen herausfordernd. Iolanda Aegerter berichtete am Podium: «Manche Beistände sind über 80 und überfordert mit der digitalen Welt.» Vielen sei nicht bewusst, dass die Anmeldung auch auf Papier möglich sei. Aber auch Beistände auf Sozialen Diensten kämen teilweise an ihre Grenzen. Für ihre eigentliche Arbeit, die Bedarfsermittlungen, benötige sie aktuell noch viel Abgleich mit der Bedarfsprüfungsstelle.
Auch Leuenberger hat aus ihrem Umfeld von einigen Schwierigkeiten gehört. Nichtsdestotrotz ermutigte sie an diesem Abend alle: «Wir brauchen Leute in der Verwaltung, den Heimen, Bezugspersonen, Angehörige und viele mehr. Allen wünsche ich viel Mut und eine grosse Portion gesunden Menschenverstand, um die Umsetzung des neuen Gesetzes zu begleiten.» Nur wenn möglichst viele Menschen mit Behinderungen Leistungen nach BLG beantragten und dem Kanton Feedback gäben, könne dieser seine Prozesse auch verbessern. Und sie ergänzt: «Die Subjektfinanzierung hat viel Potential, es geht nun darum, dieses auszuloten.»
Kurz erklärt: Von der Objekt-zur Subjektfinanzierung
Die Finanzierung der Leistungen für Menschen mit Behinderungen im Bereich Wohnen gehört in die Zuständigkeit der Kantone. In der bisher üblichen Objektfinanzierung erhalten Institutionen Leistungsverträge mit den Kantonen und werden unterstützt. Ambulante Dienstleistungen werden seltener oder gar nicht unterstützt.
Objektfinanzierung:
Infografikbeschreibung Objektfinanzierung: Der Kanton gibt Wohnheim Z, Wohnheim X und Wohnheim Y Geld.
Seit 2017 haben einige Kantone (beide Basel, Zürich, Bern, Luzern) Schritte in Richtung Subjektfinanzierung unternommen. In der Subjektfinanzierung unterstützen Kantone Menschen mit Behinderungen direkt. Diese können dann wählen, wie sie das Geld für ihre Unterstützung einsetzen.
Subjektfinanzierung:
Infografikbeschreibung Subjektfinanzierung: Der Kanton gibt den Personen mit Behinderung (A, B und C) Geld. Person A gibt das Geld weiter an an Wohnheim (stationäre Unterstützung). Person B gibt das Geld weiter an eine persönliche Assistenz und an Familienmitglieder. Person C gib das Geld weiter an ambulante, institutionelle Hilfe.
Warum Subjektfinanzierung?
Menschen mit Behinderungen fordern seit langem mehr Wahlfreiheit im Bereich Wohnen. Diese Forderung wird von der UN-Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz vor 10 Jahren ratifiziert hat, bekräftigt. Die bisherige Objektfinanzierung bevorzugt institutionelle Wohnformen, ambulante Dienstleistungen oder familiäre Unterstützung werden nicht im selben Mass unterstützt.
Achtung!
Die Gesetze zur Subjektfinanzierung sind je nach Kanton unterschiedlich gestaltet. Zum Beispiel gibt es Unterschiede bei den Berechnungsmethoden, den Anspruchsgruppen oder der Anerkennung von Anbietern bei den ambulanten Dienstleistungen. Auch die Finanzierung der Institutionen funktioniert nicht überall gleich. Ein Wechsel des Wohnkantons ist für Menschen mit Behinderungen deshalb weiterhin mit mehr Ungewissheit verbunden als für Menschen ohne Behinderungen.