Übersichts-Foto mit Menschen rund um die Tische. Austausch in Gruppen über hindernisfreie Zugänge in der Kultur. Bildquelle: Sandro Imhasly, Pro Infirmis.
Über 120 Vertreter:innen der Kultur aus allen Teilen der Schweiz nehmen am 4. Dezember 2023 am Netzwerktreffen im Zentrum Paul Klee in Bern teil. Sie kommen aus unterschiedlichen Sparten, aus Museen, aus Theater- und Konzerthäusern oder aus Festivalbetrieben. Die Angereisten sind der Einladung der Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis gefolgt.
Während draussen Minus-Temperaturen herrschen, ist drinnen die Atmosphäre warmherzig. Personen mit fröhlichen Gesichtern begrüssen einander und unterhalten sich angeregt.
Was die bunt zusammengewürfelten Kulturschaffenden verbindet, ist ihr Engagement, kulturelle Angebote für und mit Menschen mit Behinderungen hindernisfrei zu machen. Die meisten haben das Label «Kultur inklusiv». Das Netzwerktreffen bietet den Kulturinstitutionen die Gelegenheit, neue Kontakte zu knüpfen sowie ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit Selbstvertreter:innen aus dem Kulturbereich zu teilen.
Paola Pitton, Mitarbeiterin der Fachstelle Kultur inklusiv zeigt sich berührt vom zahlreichen Erscheinen und heisst die Anwesenden zum nationalen Netzwerktreffen willkommen.
Während der Veranstaltung steht ein Ruhe-Raum zur Verfügung. Dolmetscher:innen übersetzen in Gebärden- und Schriftsprache sowie in Deutsch und Französisch. Alle Redner:innen geben ihre Körpergrösse an und beschreiben die Farbe ihrer Kleidung für Menschen mit einer Sehbehinderung.
Von der «leuchtenden Ausnahme»
Die Grussbotschaft von Brian McGowan, Initiator des Labels «Kultur inklusiv», wird vorgelesen: «In vielen Gesellschaftsbereichen sind wir in der Schweiz nach wie vor ausserordentlich inklusionsungeübt, oder es fehlt der Wille an den Machtstrukturen tatsächlich etwas ändern zu wollen.» Aber der Kulturbereich sei hier andere Wege gegangen. Er sei schon immer ein Ort gewesen, an dem Menschen für andere Lebensrealitäten offen gewesen seien und sich aktiv mit ihnen auseinandersetzen wollten. Sie hätten mit zahlreichen Projekten aufgezeigt, wie bestehende Strukturen zugunsten der Inklusion verändert und neue geschaffen werden können. Dies nachhaltig und im Einklang der UN-Behindertenrechtskonvention. Aus diesem Grund bezeichnet Brian McGowan den Kulturbereich in der inklusionsungeübten Gesellschaft als «leuchtende Ausnahme». Von ihr könnten, so McGowan, auch andere Bereiche der Gesellschaft profitieren.
« In vielen Gesellschaftsbereichen sind wir in der Schweiz nach wie vor ausserordentlich inklusionsungeübt, oder es fehlt der Wille an den Machtstrukturen tatsächlich etwas ändern zu wollen. »
Von der Idee bis zu 93 Label-Partnerschaften
Das Label «Kultur inklusiv» feiert bald sein zehnjähriges Bestehen. Felicitas Huggenberger, Direktorin von Pro Infirmis, hält Rückschau. 2014 habe Brian McGowan, damals Leiter der Fachstelle Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen der Stadt Bern, die Idee für ein Label gehabt. Damit würden Kulturinstitutionen sich verpflichten, ihre Angebote mit baulichen, kommunikativen und anderen Massnahmen barrierefrei zu gestalten und sich so für die Inklusion zu engagieren. Um das Label zu vergeben und Kulturinstitutionen bei den Massnahmen für Inklusion zu beraten und zu begleiten, habe die Fachstelle der Stadt Bern zusammen mit Pro Infirmis Bern die Fachstelle Kultur inklusiv gegründet.
Bereits im April 2016 erhielten 14 Berner Kulturinstitutionen das Label «Kultur inklusiv». Noch im gleichen Jahr übernahm Pro Infirmis die Trägerschaft und die Vergabe des Labels wurde auf die ganze Deutschschweiz ausgeweitet, ab 2018 auch auf die Romandie und 2019 auf das Tessin. Heute trügen 93 Kulturinstitutionen aus allen Sprachregionen das Label. Felicitas Huggenberger bezeichnet «Kultur inklusiv» als «gemeinsames Werk». Ohne die Labelpartner hätte das Projekt in den letzten Jahren nicht in allen Teilen der Schweiz wachsen können. Ohne sie wären die inklusiven Erfolge im kulturellen Bereich nicht zustande gekommen.
Foto mit Bühne und Redner:innen. Die Referent:innen präsentieren die Folgeprojekte, die aus den vier regionalen Netzwerkprojekten entstanden sind. Stehend: Raffaela Kolb (mit Mik) und Natascha Sancassani (Folgeprojekt Kulturstaffette) Sitzend (v.l.): Michaël Wenger, Fabian Bertschy (beide Verein CINE), Claudia Kühne, David Herzmann (beide Verein Kultur für Alle), Romolo Pignone und Giacomo Grandini (beide Netzwerkprojekt Tessin). Bildquelle: Sandro Imhasly, Pro Infirmis.
Ein Strauss von Inspirationen
Acht Redner:innen berichten von den regionalen Netzwerkprojekten, welche die Fachstelle «Kultur inklusiv» von 2020 bis 2023 in vier Regionen durchgeführt hat: im Tessin, in der Ostschweiz, im Kanton Neuenburg und danach im Kanton Zürich. Bestandteil dieses Projekts war, Workshops durchzuführen. Bei diesen haben Menschen mit Behinderungen, Vertreter:innen aus dem Sozial- und Kulturbereich und von Kultur-Förderstellen diskutiert, welche inklusiven Zugänge es bereits gibt, welche fehlen, und wie man optimieren könne. Weil der Austausch so positiv war, haben viele der Beteiligten entschieden, sich in ihrer Region weiterhin zu treffen. Denn dank dieses Austausches wurden Menschen mit Behinderungen stärker in die Planungs-, Umsetzungs- und Auswertungsprozesse von Inklusions-Projekten einbezogen. Mit ihrer Expertise können Kulturschaffende wichtige Anpassungen vornehmen, zum Beispiel Barrieren beim Web-Zugang, beim Ticket-System oder bei den Beschreibungen für die Anfahrten abbauen. Auch schätzen es die Kulturschaffenden, sich in der Region untereinander zu vernetzen, um Wissen und Erfahrungen auszutauschen sowie Synergien zu nutzen.
Nach den regionalen Treffen wurden in der Ostschweiz der Verein «Kultur für Alle» und im Kanton Neuenburg der Verein «CINE» («Culture Inclusive Neuchâtel») gegründet. Im Kanton Tessin wird abgeklärt, ob eine Koordinationsstelle für inklusive Kultur geschaffen werden kann. Im Kanton Zürich ist ein Staffel-System im Aufbau, bei dem Kulturinstitutionen, die inklusive Zugänge eröffnen wollen, von Erfahrenen aus dem Behinderten- und Kulturwesen gecoacht werden.
Als Nàchstes tauschen die Kulturschaffenden in 10 bis 12er-Gruppen aus, welche hindernisfreie Zugänge sie anbieten. Berichte von Audio-Deskription, taktilen Führungen für Menschen mit Sehbehinderungen, Verdolmetschungen in Gebärdenaprache und viele andere kommen zusammen. Mehrere Gruppenmitglieder erzählen auch vom Engagement, Personen mit einer Behinderung anzustellen und mit ihnen zusammen zu arbeiten.
Einläuten einer neuen Phase
Seit 2016 habe Pro Infirmis als Trägerin und Haupt-Finanziererin in das Projekt «Kultur inklusiv» investiert, erklärt Felicitas Huggenberger von Pro Infirmis. «Leider hat jedes Projekt ein Ende.» Pro Infirmis müsse den Gürtel enger schnallen. Pläne, wie es mit der Fachstelle weitergehe, seien noch nicht ausgereift. Huggenberger verspricht, dass sie Anfang 2024 kommunizieren werde. Wichtig sei, dass die Inklusion in der Kultur fortgesetzt und weiter ausgebaut werde.
Paola Pitton von der Fachstelle «Kultur inklusiv» verweist auf die Website kulturinklusiv.ch, auf der die Inklusions-Projekte aller Label-Partner:innen porträtiert sind. Auch Handbücher und Merkblätter sowie Adressen von Dienstleistungsstellen sind dort zu finden. Mit diesen Informationen können die Kulturschaffenden Inklusion auch selber weiter vorantreiben.
Am Ende der Veranstaltung lädt Pro Infirmis alle zu einem Apéro ein, um auf die inklusive Kultur anzustossen. Noch einmal stehen die Kulturschaffenden in Gruppen zusammen, tauschen Erfahrungen, Ideen und Kontaktdaten untereinander aus.