Austausch und Vernetzung: Das Netzwerktreffen von und für Menschen mit Behinderungen im Bundeshaus Bern wurde auf den Namen Forum 22 getauft. Bildquelle: Sandro Imhasly, Pro infirmis
«Ich bin politisch sehr interessiert – aber ich kann es mir schlicht und einfach nicht leisten, für ein Amt zu kandidieren.» Am World Café der Behindertenkonferenz Schaffhausen spricht mir eine Frau aus dem Publikum aus dem Herzen. Es freut mich sehr, dass das Treffen ein voller Erfolg war und sehr viele Menschen welche keine (sichtbaren – because who knows?) Behinderungen haben, daran teilgenommen haben.
Trotzdem glaube ich, dass die Innensicht und die Barrieren sehr schwierig zu vermitteln sind, man kann sich einfach fast gar nicht vorstellen, was es da alles zu bedenken und befürchten gibt, wenn man mit einer Behinderung lebt.
Ich gebe ein persönliches Beispiel: Ich spiele Impro-Theater und habe sehr lange gezögert, ob ich dort auf der Homepage genannt werden will. Und zwar weil ich hauptsächlich aus psychischen Gründen eine IV-Rente erhalte. Recht viele in meinem erweiterten Bekanntenkreis fanden das übertrieben und schrieben es meiner hin und wieder übertriebenen Vorsicht (Paranoia?) zu. Ich bin jetzt drauf, aber glaubt mir, es ist keineswegs unrealistisch, dass die IV so etwas als Grund sieht, eine Rente zu streichen.
« Mein Traum ist es, dass ich an der nächsten Behindertensession (ein wichtiges Ziel von Forum 22 – wir fassen das Jahr 2026 ins Auge) sprechen und Menschen mit psychischen Behinderungen eine Stimme und ein Gesicht geben darf. »
Problematische Rechtsprechung
Die Rechtsprechung – gerade in Fällen von Menschen, welche aus psychischen Gründen eine IV-Rente beantragen (müssen), ist oft haarsträubend. Pflückt man Oliven im Garten seiner Eltern, ist in der Lage in Begleitung Milch zu kaufen oder hat mehr als drei Kontakte, mit denen man ab und zu via WhatsApp kommuniziert, kann einen das schon in die Bredouille und um seine finanzielle Existenz bringen.
Ich weiss, dass es vollkommen absurd klingt. Aber so ist es tatsächlich. Gerne mache ich Quellenangaben, denn die Urteile kann man öffentlich einsehen. Ich verweise sehr gerne auf den Blog «IV Info – Notizen zur Schweizerischen Invalidenversicherung» von Marie Baumann.
Zurück zur Einstiegsfrage: Es geht es nämlich nicht in erster Linie darum, dass Menschen mit Behinderungen kein Geld haben, um einen Wahlkampf zu führen. Jede:r braucht Geld für einen Wahlkampf – unabhängig davon, ob die Person Behinderungen hat oder nicht.
ABER die wenigsten werden wohl dabei ihre finanzielle Existenz riskieren, weil ihnen dann allenfalls die Rente und somit finanzielle Existenz abgesprochen wird. Denn diejenigen, die es geschafft haben, überhaupt eine IV-Rente zu bekommen sind noch die «glücklichen» unter uns.
Die Verfahren dauern im Schnitt viel zu lange. Hier wieder sind Menschen insbesondere mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen im Vergleich zu anderen extrem benachteiligt – ausserdem spielt die Öffentlichkeit ganz gerne Menschen mit Behinderungen gegeneinander aus: Menschen mit psychischen Behinderungen werden quasi verantwortlich gemacht dafür, dass die Verfahren lange dauern und die IV so streng ist.
« Der Name ‹Forum 22› drückt aus, dass 22 Prozent der Menschen mit Behinderungen leben und soll zum Nachfragen und Nachdenken anregen. »
Namensfindung in Bundesbern. Bildquelle: Sandro Imhasly, Pro infirmis
Hallo, Bundesamt für Statistik!
IV-Renten aufgrund psychischer Gründe werden in allen Statistiken separat ausgewiesen. Fachpersonal, das speziell geschult wäre für Menschen mit psychischen Behinderungen? Gibt es praktisch nicht, denn da haben die Behörden offenbar das Gefühl, dass da jede:r ein bisschen mitmischen kann. Für anderes braucht es entsprechende Ausbildungen. Wieviele IV-Mitarbeitende haben seit 2019 einen Ensa-Kurs absolviert? Das sind Kurse, welche Basiswissen über psychische Krankheiten vermitteln. Ich freue mich auf die Antworten des Bundesamts für Statistik.
Einen Ratgeber für Menschen mit psychischen Behinderungen musste Marie Baumann SELBER erstellen. Er wird jetzt auch von den öffentlichen Stellen verwendet. Ist das nicht der Gipfel (no pun intended)?
Zurück zur Politik: Die IV ist wichtig. Nicht weil der Betrag an und für sich so hoch ist, sondern weil daran viele Leistungen gekoppelt sind: Ergänzungsleistungen sind nämlich an eine AHV oder IV-Rente gebunden. Das heisst: Ohne IV gibt es auch keine EL. Kein vergünstigtes SBB-Abo. Keine Wohnplätze. Allenfalls keine Pensionskassenbeiträge oder Leistungen aus Lebensversicherungen.
Wer also mit einer Behinderung für ein Amt kandidiert und dann allenfalls gewählt wird, riskiert viel. Zu viel für die meisten.
« Es war schön, so viele Menschen mit Behinderungen zu treffen und anregende Diskussionen zu führen und gegenseitig zu spüren: Wir sind alle im gleichen Boot. Wir wollen – ja ich sage das jetzt einfach so – die Welt verändern. »
Endlich im Bundeshaus
Darum haben sich dieses Jahr in Bern Menschen mit Behinderungen aus der ganzen Schweiz zu einem Netzwerktreffen versammelt. Ich wusste gar nicht, ob ich mich als Politikerin bezeichnen darf (ich habe zwar 2019 erstaunlich erfolgreich für den Nationalrat kandidiert – doch dies ist eine andere Geschichte… Fortsetzung folgt). Aber ich war ganz aufgeregt zum ersten Mal im Bundeshaus sein zu dürfen.
Es war schön, so viele Menschen mit Behinderungen zu treffen und anregende Diskussionen zu führen und gegenseitig zu spüren: Wir sind alle im gleichen Boot. Wir wollen – ja ich sage das jetzt einfach so – die Welt verändern.
Und wir haben bei der Wahl des Namens für unser Netzwerk begonnen. Es standen drei Namen zur Auswahl: Politinklusiv, Alliance i (mein persönlicher Favorit) und Forum 22. Wir haben dann natürlich demokratisch abgestimmt und die Mehrheit der Anwesenden hat sich für Forum 22 entschieden. Selbstverständlich akzeptiere ich diesen demokratischen Entscheid als Teil dieses Netzwerks und bin stolz darüber.
Der Name «Forum 22» drückt aus, dass 22 Prozent der Menschen mit Behinderungen leben und soll zum Nachfragen und Nachdenken anregen.
Davon träume ich
Mein Traum ist es, dass ich an der nächsten Behindertensession (ein wichtiges Ziel von Forum 22 – wir fassen das Jahr 2026 ins Auge) sprechen und Menschen mit psychischen Behinderungen eine Stimme und ein Gesicht geben darf.
An der ersten (und bislang letzten) Behindertensession sprach leider keine einzige Person mit psychischer Behinderung, was von den Teilnehmenden auch thematisiert wurde. Unter anderem, weil es so schwierig ist, sich zu exponieren und man mit extrem viel Gegenwind und Stigmatisierung rechnen muss. Abgesehen vom finanziellen Risiko…
Allerdings müsste ich mich dann auch zur Wahl stellen um überhaupt sprechen zu dürfen. Ich hoffe, dass ich dann genug Stimmen bekommen kann, um das auch durchzuziehen.
Ich habe die politisch interessierte Dame übrigens dazu eingeladen, nächstes Mal beim Forum 22 mit dabei zu sein. Sie hat sich sehr darüber gefreut!