Der Sturm auf das Kapitol in Washington D.C. (USA) am 6. Januar 2021, war für Tobias Fankhauser der ausschlaggebende Grund, im drauffolgenden Frühling den Grünen in seinem Wohnkanton Basel-Landschaft beizutreten. Ihm habe dieses Ereignis klar gemacht, dass die demokratischen Rechte verteidigt werden müssen. Dem 33-jährigen Studenten in Business Administration ist es wichtig, selbst an demokratischen Prozessen teilzuhaben, sie zu pflegen und zu erhalten. Fankhauser ist noch nicht lange in der Partei. Aber durch seine sportliche Karriere von über zehn Jahren als Handbiker an Paralympics bringt er eine gewisse Bekanntheit mit in die Kandidatur.

Tobias Fankhauser

Porträt von Tobias Fankhauser, Basel-Landschaft, Partei: Grüne. Bildquelle: Grüne Partei, Joel Sames.

Im gleichen Jahr wie Fankhauser wurde die heute 48-jährige Bernerin Simone Leuenberger Mitglied der EVP. Zuvor unterstützte die Gymnasiallehrerin für Wirtschaft und Recht die Partei schon seit Jahren als Sympathisantin und kandidierte auf deren Listen. Bereits als junge Studentin engagierte sich Leuenberger bei Agile.ch und anderen Vereinen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. 2022 wurde sie zur Grossrätin gewählt. Die EVP des Kanton Berns schätzt Leuenbergers Erfahrungshintergrund und Kompetenzen und fragte sie deswegen für die Nationalrats-Kandidatur an.

Simone Leuenberger

Porträt von Simone Leuenberger, Bern, Partei: EVP. Bildquelle: Markus Zuberbühler.

Wie bei Leuenberger führte Nicole Tilles Weg früh in die Politik. Seit ihrer Jugend interessiert sie sich für Politik. Ungerechtigkeiten haben sie schon immer empört. Um etwas dagegen zu tun, hat sie sich die Kommunikationsspezialistin in mehreren Vereinen im sozialen und kulturellen Bereich engagiert. Die heute 53-Jährige wurde dann 2015 Mitglied der SP von Châtel-St-Denis, und amtet dort seit 2021 als Gemeinderätin. Die SP hat Tilles Kandidatur willkommen geheissen, da sie Erfahrungen in der Politik auf kommunaler Ebene mitbringt, und weil sie mit ihr eine Frau als Kandidatin nominieren wollten.

Nicole Tille

Porträt von Nicole Tille, Freiburg, Partei: SP. Bildquelle: SP Schweiz.

Behindertenpolitik als Herzensanliegen

Alle Kandidierenden möchten in der Behindertenpolitik etwas bewegen:

SP-Politikerin Nicole Tille möchte die Inklusion vorantreiben. Diese sei eine Aufgabe der Gesamtgesellschaft, eine Pflicht, in die massiv investiert werden müsse. Dazu gehört auch, dass die private und öffentliche Infrastruktur für Menschen mit Behinderungen angepasst wird. Verbesserungen würden beispielsweise auch der alternden Bevölkerung zugute kommen. Im Falle ihrer Wahl, so Tille, würde sie sich für die Anliegen der gesamte Öffentlichkeit einsetzen.  

Simone Leuenberger von der EVP plädiert für eine Umverteilung: «Im Moment fliessen noch zu viele Gelder in die institutionelle Versorgung, sowohl beim Wohnen als auch bei der Bildung und der Arbeit. Menschen mit Behinderungen sollen selber bestimmen können, wo und mit wem sie leben wollen, und wie sie ihr Erwerbsleben gestalten wollen.» Als weiteres Anliegen nennt sie die Partizipation: «Überall dort, wo es um Behinderungen geht, sollen auch Menschen mit Behinderung einbezogen werden. Nicht nur bei sozialen Themen, beim Bauen oder bei der Mobilität, sondern auch bei anderen wie beispielsweise beim Sport, Katastrophenschutz oder bei der Entwicklungszusammenarbeit.»

Zudem solle die Schweiz das Zusatzprotokoll der UNO-Behindertenrechtskonvention unterzeichnen, weil das ihre Umsetzung konsequenter fördern würde, so Tobias Fankhauser von den Grünen.

Die Suche nach der gemeinsamen Stimme

Auf die Frage, wie Menschen mit Behinderungen aus verschiedenen Parteien zu einer gemeinsamen Stimme finden können, erwähnen Nicole Tille und Tobias Fankhauser die Behindertensession vom 24. März. Diese habe gezeigt, dass sie konsensorientiert zusammenarbeiten können.

Die Berner Kandidatin Leuenberger findet, dass Menschen mit Behinderungen nicht bei allen Fragen einig sein müssen. «Deshalb ist es gut, dass es keine ‘Behindertenpartei’ gibt. Behinderung muss vielmehr in allen Parteien Thema sein.» Nach Leuenberger können Menschen mit Behinderungen aus allen politischen Richtungen sich für Dialoge zusammenschliessen, um eine gemeinsame Stimme zu entwickeln und besser gehört zu werden.

« Deshalb ist es gut, dass es keine ‘Behindertenpartei’ gibt. Behinderung muss vielmehr in allen Parteien Thema sein. »

Simone Leuenberger, EVP

Politik ist mehr als nur Behindertenpolitik

Dass die Politik mehr als Behindertenanliegen umfasst, zeigen die Kandidierenden dadurch, dass sie sich auch für soziale Gerechtigkeit, Solidarität und andere Themen einsetzen wollen. Zugleich setzen sie auch persönliche Akzente.  

So möchte sich etwa die Gymnasiallehrerin Simone Leuenberger für das Stimmrechtsalter 16 stark machen. Dem ehemaligen Sportler Tobias Fankhauser liegt der Umweltschutz am Herzen. Und Nicole Tille will, dass die Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen sowie Femizide konsequenter bekämpft werden.

Hürden im Wahlkampf

Bei allen ist die Unterstützung durch die Partei während dem Wahlkampf nicht anders als für Kandidierende ohne Behinderungen, aber sie begegnen Hindernissen. «Wie üblich stosse ich bei der Mobilität immer noch auf bauliche Barrieren»», sagt Nicole Tille, die seit 32 Jahren mit einer Beinprothese lebt, und Simone Leuenberger ist auf ihr umgebautes Auto angewiesen. «Das ermöglicht es mir, auch an Orte zu kommen, die mit dem öffentlichen Verkehr für Rollstuhlfahrende noch immer nicht zugänglich sind.»

Sichtbarkeit dank Behindertenliste

Pro Infirmis hat auf ihrer Website eine Behindertenliste veröffentlicht, auf der 29 Kandidierende mit Behinderungen porträtiert sind. Die drei Befragten figurieren auf der Liste und äussern sich positiv dazu.

"Ich finde, die Pro Infirmis macht einen guten Job darin, Kandidierenden mit Behinderungen Sichtbarkeit zu ermöglichen», sagt Tobias Fankhauser von den Grünen. «Daher bin ich stolz, Teil dieser nationalen Kampagne zu sein.»

Für Simone Leuenberger von der EVP verdeutlicht die Liste, dass Menschen mit Behinderungen die Politik nicht einfach den Nichtbehinderten überlassen wollen. «Für mich ist die Behindertenliste ein starkes Zeichen dafür, dass nicht mehr über uns ohne uns entschieden werden darf.»

Die SP-Politikerin Nicole Tille sieht den Vorteil der Pro-Infirmis-Liste auch darin, sich untereinander zu vernetzen. Hinzu komme, dass die Medien auf sie aufmerksam werde und sich mehr für das Thema Behinderung interessieren.

« Für mich ist die Behindertenliste ein starkes Zeichen dafür, dass nicht mehr über uns ohne uns entschieden werden darf. »

Simone Leuenberger, EVP

Wiederwahl für den Nationalrat

Auf der Behindertenliste ist ebenfalls Christian Lohr aufgeführt, der bereits auf 12 Jahre als Mitte-Nationalrat zurückblickt und sich zur Freude seiner Partei zur Wiederwahl stellt. Lohr zeigt sich sehr glücklich darüber, dass neben ihm weitere Menschen mit Behinderungen kandidieren, «weil wir mit vielen Kandidaten und Kandidatinnen ein besseres Potential erreichen.» Darum unterstützt er die Liste, aber er erinnert auch daran: «Man muss sich bewusst sein, dass die Personen in den jeweiligen Kantonen gewählt werden. Deshalb hat diese Behindertenliste symbolischen Charakter.»

Christian Lohr

Porträt von Christian Lohr, Thurgau, Partei: Die Mitte. Bildquelle: Christian Lohr.

« Man muss sich bewusst sein, dass die Personen in den jeweiligen Kantonen gewählt werden. Deshalb hat diese Behindertenliste symbolischen Charakter. »

Christian Lohr , Nationalrat Die Mitte

Lohr ist die Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen ein zentrales Anliegen. Anstelle von Standard -Lösungen sollen sie individuell und zielgerichtet unterstützt werden.

Zur Frage, wie Politiker:innen mit Behinderungen sich bei einem Thema einigen können, sagt Lohr: «Für mich ist es entscheidend, dass man von den eigenen Interessen wegkommt und eine gemeinsame Idee und auch Haltung entwickelt, die alle berücksichtigt.»

Der Wahlkampf  

Bis zum Herbst werden alle stark beschäftigt sein. Sie werden sich mit Mitbürger:innen treffen, öffentlich auftreten und auf den sozialen Medien präsent sein. Dazu sagt Lohr: «Im Grund genommen ist das nichts anderes als das, was ich in den letzten Jahren gemacht habe. Denn politische Arbeit ist immer Wahlkampf, ohne ihn immer im Kopf zu haben.» Er hofft, dass sich Menschen mit Behinderungen nicht nur im jetzigen Wahlkampf, sondern langfristig auf allen Ebenen politisch engagieren.