Im Bild sind zwei Frauen grafisch dargestellt. Sie haben halblanges Haar und sind von hinten sichtbar. Sie sitzen je auf einem Stuhl, an einem gemeinsamen Tisch. Das Bild ist in blau-grau gehalten und wirkt leicht verpixelt. Farbflächen sind wie kleine Zettel über das Bild verteilt.

Bildnachweis: OpenAI. KI-generiertes Bild. Generiert mit ChatGPT, 2024

Es ist ein trüber Herbsttag, als ich Vero* und Leonie treffe. Das Treffen findet in einem geschlossenen Raum der Münstergassbibliothek in Bern statt, denn was Vero und Leonie mir erzählen, muss anonym bleiben. Zu gross sei das Risiko, dass das Gesagte negative Konsequenzen auf ihre berufliche Karriere haben könnte, da sind sich die beiden einig. Vero und Leonie sind beide ausgebildete Sozialarbeitende, haben berufliche Erfahrung im Umgang mit Menschen in belasteten Situationen. Aber – und das ist das Brisante – sie haben auch eigene Erfahrung mit einer psychischen Erschütterung. 

Leonie ist fast am Ende ihres berufsbegleitenden Studiums, als sich ihre Abwesenheiten am Arbeitsplatz häufen und es in der Folge zu einer zweimonatigen Krankschreibung aufgrund einer Erschöpfungsdepression kommt. Danach steigt sie wieder ein und kann nach einer kurzen Übergangsfrist bis zum Ende der Ausbildung normal weiterarbeiten. 

Vero arbeitete sechs Jahre in einem Betrieb, in dem junge Menschen rund um die Uhr betreut werden. Zuletzt leitete sie ein Team. Dann führte eine schwere depressive Episode zu einer mehrmonatigen Krankschreibung, zu Notfall-Aufenthalten in der Psychiatrie. Ein langer Gesundungsweg und eine Wiedereingliederung mit Unterstützung der Invalidenversicherung folgten. Die Wiedereingliederung hätte Vero gerne im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses durchlaufen. Aber der Arbeitgeber kündigte ihr umgehend nach der sechsmonatigen Sperrfrist. 

Im Gespräch erzählen die beiden Sozialarbeitenden welche Erfahrungen sie mit ihren eigenen psychischen Krisen am Arbeitsplatz gemacht haben und wie Vorgesetzte und Mitarbeitende damit umgegangen sind.

Warum ist es euch so wichtig, über eure Erfahrung mit psychischen Erschütterungen im Kontext der Sozialen Arbeit zu sprechen?

Vero: «Für mich ist es ein Thema, weil ich als Sozialarbeitende selbst von einer psychischen Erkrankung betroffen bin. Ich merke, dass es generell in der Gesellschaft schwierig ist über psychische Erkrankungen zu sprechen, man trifft nicht immer auf Verständnis. Im beruflichen Kontext erlebe ich es noch viel stärker als Tabu. Schwere psychische Erkrankungen bei Fachpersonen der Sozialen Arbeit, das darf es nicht geben, ist mein Gefühl.»

« Schwere psychische Erkrankungen bei Fachpersonen der Sozialen Arbeit, das darf es nicht geben, ist mein Gefühl. »

Vero, Sozialarbeiterin

Leonie: «Auch ich arbeite im sozialen Bereich und habe eine psychische Krise erlebt. Ich bin damals recht offen damit umgegangen und würde das wohl wieder so machen. Aber ich habe bemerkt, dass es bei meinen Arbeitskolleg:innen mehr aufgewühlt hat, als wenn ich einfach das Bein gebrochen hätte. Ich hatte den Eindruck, dass sich bei einigen der Blick auf mich nachhaltig verändert hat. Ich spürte im Alltag ein Gefühl von Distanz oder Unsicherheit. Mehr, als ich mir das bis dahin bei anderen Abwesenheitsgründen gewohnt war. Das hat mich überrascht. Ich fragte mich: Warum gibt es plötzlich Berührungsängste, wenn eine Mitarbeiterin betroffen ist? Im sozialen Bereich kennen viele Menschen Krisen oder brennen aus. Dass solche Krisen gerade in diesem Bereich noch recht stigmatisiert sind oder ungerne darüber gesprochen wird, finde ich tragisch.»

Warum ist das aus eurer Sicht so?

Leonie: «Es gibt diese Vorstellung, dass man als Fachperson ein unbeschriebenes Blatt sein und seine eigenen Themen möglichst aus dem beruflichen Alltag heraushalten sollte. Dabei beobachte ich Widersprüchliches: Einerseits arbeiten wir oft eng zusammen mit Menschen, die psychisch belastet sind. Wir werden in der Ausbildung intensiv darin geschult, was zu einer Genesung beiträgt, und was nicht. Wir haben generell eine hohe Offenheit gegenüber Schicksalsschlägen, die in unserer Arbeit einfach dazugehören. Anders sieht es aus, wenn Sozialarbeitende selbst erkranken: Wer psychisch erkrankt ist, gilt als nicht mehr gleich belastbar, vielleicht nicht mehr gleich zuverlässig. Man hat vermutlich Angst, dass die Person dauernd ausfällt. Es besteht aus meiner Sicht das Risiko, dass einem die Fähigkeit für den Job abgesprochen wird. Die Qualifikation, die Resilienz und die Fähigkeit sich abzugrenzen, werden angezweifelt.»

Vero: «Mein Eindruck ist, dass viele Arbeitgebende eine psychische Erkrankung eng mit negativen Auswirkungen in Verbindung bringen, beispielsweise, dass ein:e Mitarbeiter:in lange ausfällt. Dafür sprechen auch Statistiken. Dass es aber zwischen den beiden Polen von schwerwiegender Erkrankung mit langer Krankschreibung und vollständiger Gesundheit viele Graustufen gibt, das ist noch kaum ein Thema. Wenn du krank bist, wirst du als unsichere Nummer, die wahrscheinlich irgendwann ausfällt, abgestempelt.»

Wie wirkt sich diese Haltung auf euch als betroffene Sozialarbeitende aus?

Leonie: «Wegen der Stigmatisierung getraut man sich unter Umständen erst spät zu kommunizieren, dass man am Limit ist. Und wenn man dann endlich etwas sagt, ist es wahrscheinlich auch zu spät und man muss krankgeschrieben werden. Ich selbst habe mich durch das Schweigen meiner Arbeitskolleg:innen zusätzlich verunsichert gefühlt. Dabei hätte ich Bestärkung und Ermutigung benötigt auf meinem Gesundungsweg.»

« Wegen der Stigmatisierung getraut man sich unter Umständen erst spät zu kommunizieren, dass man am Limit ist. Und wenn man dann endlich etwas sagt, ist es wahrscheinlich auch zu spät und man muss krankgeschrieben werden. »

Leonie, Sozialarbeiterin

Vero: «Für mich schwang auch in vielen Pausengesprächen mit Arbeitskolleg:innen oder Vorgesetzten die Schuldfrage unterschwellig mit. ‹Was hat die betroffene Person falsch gemacht, dass sie in eine solche Krise geraten ist? Ist sie zu perfektionistisch oder grenzt sie sich vielleicht zu wenig ab?› Solche Fragen tauchen bei körperlichen Erkrankungen weniger auf.»

Welche Veränderungen wünscht ihr euch für eure Branche?

Leonie: «Ich wünschte mir, dass sich Arbeitgebende im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen auf die individuelle Geschichte der betroffenen Mitarbeitenden einlassen. Vielleicht gibt es tatsächlich Arbeitsbereiche, die den betroffenen Mitarbeiter:innen nicht mehr guttun, wenn sie gewisse Erschütterungen erlebt haben. Ich wünsche mir zudem, dass man erkrankten Personen nicht generell die Qualifikation für den ganzen Bereich der sozialen Arbeit abspricht.» 

Vero: «Ich wünschte mir, dass man einander zuhört. Und dass man auch reagiert, wenn Mitarbeitende sagen: ‹Mir geht es nicht gut›. Ich hatte vor meiner Krise an mehreren Stellen im Betrieb deponiert, dass ich stark überlastet sei. Man weiss heute, dass es wichtig ist, bei psychischen Krisen früh zu intervenieren und Lösungen zu suchen. Dafür gab es in meinem Fall wenig Raum.

Ich glaube, dass bei psychischen Erkrankungen auch immer noch eine riesige Angst vorhanden ist, weil man sie nicht einordnen kann. Ich hatte mal einen Mitarbeiter mit einer starken Sehbehinderung. Er hat dem Team erklärt, was er genau hat und welche Anpassungen nötig sind, damit er gut arbeiten kann. Das ist ein gutes Beispiel von Inklusion und Diversität. Ich fand es sehr wertvoll, wie er in diesem konkreten Fall vorgegangen ist. Ich würde mir wünschen, dass das auch bei psychischen Erkrankungen möglich ist, ohne dass die Arbeitsleistung generell in Frage gestellt wird.»

Leonie: «Im sozialen Bereich arbeiten fast alle Institutionen sozialraumorientiert, Personen werden in ihren Systemen betrachtet. Gerade beim Thema psychische Gesundheit der Arbeitnehmenden wäre es auch wichtig, sich zu fragen, wie das System so gestaltet werden kann, dass es weniger Ausfälle produziert und dass es den einzelnen Personen möglich ist, sich früher Hilfe zu holen und sie weniger Stigmatisierung erleben.»

Offene Kommunikation bleibt schwierig

Nach ihren Erschütterungen haben Vero und Leonie sich eingehend überlegt, wie sie ihre Erfahrung gegenüber künftigen Arbeitgebenden kommunizieren wollen. Beide berichten, dass sie sich in Bewerbungssituationen in einem Dilemma befänden: Einerseits möchten sie ehrlich, transparent und auch authentisch sein. Gleichzeitig fürchten sie, dass sie damit stigmatisiert und diskriminiert werden. 

« Einerseits möchten sie ehrlich, transparent und auch authentisch sein. Gleichzeitig fürchten sie, dass sie damit stigmatisiert und diskriminiert werden. »

Nicole Haas, Journalistin RoB

Vero hat es ausprobiert und hat in den ersten Bewerbungsgesprächen nach der Wiedereingliederung ihre Erkrankung offen angesprochen. Sie musste feststellen, dass Bewerbungsverfahren dadurch zum Abbruch kamen. Sie revidierte ihre Vorgehensweise und schreibt mittlerweile etwas der Wahrheit Entsprechendes zu ihrer Lücke im Lebenslauf, aber kommuniziert ihre Erkrankung nicht mehr detailliert, wenn sie nicht explizit danach gefragt wird. Sie hat so wieder eine passende Stelle gefunden. Leonie hatte es einfacher, ihre Krankheitsabwesenheit war verhältnismässig kurz und ist im Arbeitszeugnis nicht sichtbar. Vero arbeitet heute wieder als Sozialarbeiterin. Leonie hat sich nach einer erneuten Krise dazu entschieden, sich vorerst aus dem Berufsfeld der sozialen Arbeit zurückzuziehen.

*Die Reporterin duzt in diesem Interview die beiden Gesprächspartnerinnen. Das «Du» wurde hier bewusst gewählt, da es sich um ein höchstpersönliches Thema handelt, das einen intensiven Austausch und den Aufbau einer vertraulichen Beziehung erforderte.