Simone Leuenberger kurz nach der Verkündigung der Resultate im Rathaus Bern, gemeinsam mit Denise Jost (Ehefrau von Marc Jost) und Marc Jost (EVP Nationalrat Kt. Bern). (Bildquelle: Dirk Meisel)
Viele Wähler:innen im Kanton Bern stimmten für die beiden Bernerinnen mit Behinderungen, Simone Leuenberger (EVP) und Marianne Plüss (GLP). Marianne Plüss kandidierte auf einer der Nebenlisten der Grünliberalen. «Anfang Jahr habe ich noch nicht daran gedacht, dass ich für den Nationalrat kandidieren werde», räumt Plüss ein. Dass sie auf ihrer Nebenliste die meisten Stimmen holte, überraschte sie selber positiv. «Ich habe mein persönliches Ziel mehr als übertroffen.»
Simone Leuenberger erreichte das zweitbeste Resultat der EVP des Kanton Berns. «Auf Anhieb bin ich auf dem ersten Ersatzplatz gelandet, hinter unserem bisherigen Nationalrat Marc Jost». Bei einem Sitzgewinn der EVP wäre sie Nationalrätin geworden.
Für einen Sitz im Nationalrat reichte es zwar nicht für die zwei Politikerinnen. Trotzdem zeigen sie sich zufrieden mit den Stimmen, die sie für sich gewinnen konnten. Und die Erfahrung, die sie im Wahlkampf gesammelt haben, möchten sie nicht missen. So berichtet Plüss: «Während dem Wahlkampf konnte ich spannende Menschen kennenlernen. Von diesen Kontakten kann ich weiterhin profitieren.»
Schwierige Ausgangslage
Einerseits freuen sich die beiden aus dem Bernbiet, dass mit Islam Alijaj (SP, ZH) neben den beiden bisherigen Nationalräten mit Behinderungen, Christian Lohr (die Mitte, TG) und Philipp Kutter (die Mitte, ZH) ein neuer hinzu gewählt wurde. Zudem habe, so Leuenberger, das Thema ‘Behinderung’ eine Plattform wie noch nie zuvor in der Geschichte der Schweiz bekommen.
Andererseits teilen beide die Ansicht, dass Menschen mit Behinderungen in der Politik immer noch auf zahlreiche Hürden stossen und stark untervertreten sind. «Ich habe insgeheim gehofft, dass von den Kandidierenden mit Behinderungen, nebst Islam Alijaj, es die eine oder der andere auch schaffen würde», gibt Plüss zu. «Denn Menschen mit Behinderungen weisen eine grosse Fachkompetenz in Themen wie Energie, Umwelt, Migration oder Mobilität auf.» Mit der Erfahrungsexpertise gelinge es ihnen zu jedem Thema den Bezug zur Behinderung zu erstellen.
« Denn Menschen mit Behinderungen weisen eine grosse Fachkompetenz in Themen wie Energie, Umwelt, Migration oder Mobilität auf.» »
Leuenberger streicht die äusserst schwierige Ausgangslage hervor, dass ausser den beiden bisherigen Nationalräten mit Behinderung nur sie einen Spitzenplatz auf den Listen der Parteien hatte. «Es reicht nicht, wenn mehr Menschen mit Behinderung kandidieren». Daher plädiert Leuenberger dafür, dass sie auch auf aussichtsreichen Listenplätzen und auf den Hauptlisten kandidieren können. Sonst müsse man von vorgetäuschter Unterstützung der Parteien für die Menschen mit Behinderung sprechen.
Die Parteien im Fokus
Einig sind sich Leuenberger und Plüss, dass es bei etlichen Parteien noch viel Sensibilisierungs- und Überzeugungsarbeit braucht, damit Menschen mit Behinderungen besser in der Politik partizipieren können.
Für Menschen mit einer Sehbehinderung beispielsweise sind die Wahlunterlagen, Drucksachen und Webseiten der Parteien noch nicht hindernisfrei. Das sei für sie während dem Wahlkampf schwierig gewesen, erläutert Plüss, die mit einer Sehbehinderung lebt. Auch seien die schlechten Lichtverhältnisse bei Veranstaltungen für Menschen mit Sehbehinderungen ein Thema. Deswegen habe sie sich vorgenommen, in der Partei weiter dafür zu sensibilisieren, was Menschen mit Behinderungen für die gelingende Teilhabe an Wahlkämpfen und in der Politik benötigen.
Und Leuenberger betont: «Menschen mit Behinderung müssen unabhängig von ihrer Behinderung genauso teilhaben und mitmachen können wie Menschen ohne Behinderung.»
Sie hat ihr persönliches Ziel übertroffen: Marianne Plüss kandidierte als Nationalrätin für die Grünliberalen. (Bildquelle: ZVG)
Wichtige Listen-Stimmen
Die Berner Politikerinnen bedauern es, dass die Kandidierenden bei Wahlkämpfen auf die Parteizugehörigkeit reduziert werden. Dazu sagt Leuenberger: «Vielen Wahlberechtigten ist es nicht bewusst, dass Parlamentswahlen keine Personenwahlen, sondern Proporzwahlen, also Parteiwahlen, sind.» Um das zu veranschaulichen, erklärt sie anhand eines Beispiels: «Damit ich in 2,5 Jahren wieder in den Grossrat gewählt werde, reicht es nicht, wenn mich die Wählenden zweimal auf irgendeine Liste schreiben. So werde ich meinen Sitz verlieren. Ich brauche Wählende, welche die EVP-Liste nehmen. Nur so erhalten wir genügend Stimmen um den Sitz zu behalten oder sogar einen für eine Person mit Behinderung zu gewinnen.» Leuenberger hat sich vorgenommen, auf diese Besonderheit der Proporzwahlen besser aufmerksam zu machen.
Wir bleiben politisch aktiv!
Ans Aufhören denken die zwei Politikerinnen nicht. Im Gegenteil: «Wir müssen jetzt dranbleiben!», zeigt sich Plüss entschlossen. «Wir sollen nicht denken, dass es nicht viel gebracht hat.» Ein grosses Anliegen von Plüss ist die Inklusionsinitiative. Sie möchte die Schweizer Bürger:innen dafür sensibilisieren, weswegen diese so wichtig ist. Auch plant sie an den kommenden Veranstaltungen ihrer Partei und denjenigen von Behindertenorganisationen wie der Pro Infirmis präsent zu sein.
Für Leuenberger geht die politische Arbeit im Grossen Rat des Kantons Bern weiter: «Ich freue mich, dass ich mich auf kantonaler Ebene weiterhin für eine inklusive Gesellschaft einsetzen darf.» Zudem möchte sie möglichst alle Gelegenheiten nutzen, um die Schweizer Bevölkerung auf die Anliegen und Interessen von Menschen mit Behinderung aufmerksam zu machen.
Doch dabei soll es nicht bleiben. Plüss verrät: «Möglicherweise werde ich zuerst einmal bei den nächsten Gemeinderatswahlen antreten und ich schliesse es nicht aus, bei den nächsten Nationalratswahlen nochmals zu kandidieren.» Und für Leuenberger ist eine erneute Kandidatur sowohl auf Kantons- als auch auf Bundesebene nicht vom Tisch. Deshalb sagt sie: «Wir kommen wieder!»