Youtuber Jahn Graf und die Juristin Manuela Leemann im Dialog über rechtliche Aspekte der UNO-Behindertenrechtskonvention. (Bildquelle: Samuel Schalch/Gemeindeamt)

Von Winterthur bis Ossingen, von Dänikon bis Rüti: Von allen Ecken des Kanton Zürichs reisen an diesem Morgen die Gemeindevertreter:innen nach Zürich ins Foyer des Hallenstadions. Der Anlass ist jedes Jahr einem anderen Thema gewidmet, in diesem Jahr der Inklusion und der Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention auf Gemeindeebene.

Dafür präsentiert Regierungsrätin Jacqueline Fehr in Zusammenarbeit mit dem kantonalen Sozialamt und der Behindertenkonferenz Kanton Zürich einen halben Tag lang einen Strauss an Anregungen, Informationen und konkreten Unterstützungsangeboten. Neben den Gemeindevertreter:innen nehmen an diesem Morgen auch zahlreiche Menschen mit Behinderungen und Interessierte am Anlass teil. Die viel zitierte Partizipation ist damit auch Programm.

Hürden in Form von Sichtweisen

Eine der Sprecher:innen ist Saphir Ben Dakon. Die Transformationsmanagerin lebt mit einer Zerebralparese und spricht über Hürden in Form von Sichtweisen in Gemeinden. Sie stellt diese Hürden bildlich als Barriere dar und lädt das Publikum ein, diese gemeinsam zu überwinden. Eine hinderliche Haltung sei folgende: „Menschen mit Behinderungen sollen dankbar sein dafür, dass die Gesellschaft etwas für sie tut.“ Sie sieht darin die Gefahr, dass Behörden nur halbherzig und ohne Einbezug von Menschen einzelne Veränderungen angehen, dadurch schlechte Lösungen und Entscheide treffen und so erneut Frustration bei Menschen mit Behinderung auslösen.

Die Transformationsmanagerin Saphir Ben Dakon spricht am Gemeindeforum über Hürden in Form von Sichtweisen. (Bildquelle: Samuel Schalch/Gemeindeamt)

Einen weiteren Programmpunkt bildet ein Dialog zwischen dem Youtuber und Influencer Jahn Graf und der Juristin und Politikerin Manuela Leemann (Die Mitte), beide aus dem Kanton Zug. Auf unterhaltsame Weise bringen Sie dem Publikum die Rechtslage mit der UNO-BRK näher. Manuela Leemann macht unmissverständlich klar: „Menschen mit Behinderung haben zwar in der Schweiz keinen einklagbaren Rechtsanspruch auf konkrete Massnahmen aufgrund der UNO-BRK, aber die Konvention gilt trotzdem auf allen politischen Ebenen, auch für Gemeinden.“ Sie erläutert zudem den Unterschied zum Behindertengleichstellungsgesetz. Dessen Umfang sei viel kleiner, vorwiegend auf Mobilität und Zugänglichkeit ausgelegt, während die Konvention sämtliche Lebensbereiche und Behinderungsformen abdecke.

Buskanten als Herkulesaufgabe

Gemeinden stehen bei der Umsetzung der Inklusion vor vielfältigen Herausforderungen. Es gibt fast keinen Lebensbereich, der nicht davon betroffen ist. Menschen mit Behinderungen wollen in Gemeinden leben, arbeiten, deren öffentlichen Verkehr nutzen, Kinder grossziehen, abstimmen und ihre Freizeit gestalten.

Ein oft erwähntes Thema am diesjährigen Forum sind die Bus-Haltekanten und wer für deren Anpassung aufkommt. Das Behindertengleichstellungsgesetz legt fest, dass bis Ende 2023 die Zugänglichkeit für den öffentlichen Verkehr möglichst lückenlos gewährleistet sein soll. Für viele Gemeinden ist das eine kostenintensive Aufgabe. Mike Künzle, Stadtpräsident von Winterthur, Die Mitte, rechnet vor, welche Fortschritte seine Stadt in diesem Bereich bereits gemacht hat. Er gesteht, dass er selbst etwas erstaunt gewesen sei, als er nachgerechnet habe. Bis Ende Jahr seien erst 16 Prozent aller 287 Bus-Haltekanten auf Stadtboden behindertengerecht. Ziel sei, die Zahl bis Ende 2029 auf 82 Prozent zu erhöhen.

Gute Erfahrung mit Partizipation

Eine Gemeinde, die bereits langjährige und positive Erfahrungen hat mit dem Einbezug von Menschen mit Behinderungen ist die Stadt Bülach. Nadine Perego, Leiterin Gesundheit und Soziales, präsentiert dem Publikum ihre Erfahrungswerte mit der sechsköpfigen Arbeitsgruppe „Stadt ohne Hindernisse“, die den Stadtrat von Bülach seit 20 Jahren berät. Teil dieser Arbeitsgruppe sind auch drei Menschen mit einer Behinderung. Ziel sei eine nachhaltige Integration von Menschen mit Behinderung in alle Lebensbereiche.

Seit ihrer Gründung habe die Gruppe sich an zahlreichen Projekten beteiligt, habe beispielsweise ihr Erfahrungswissen bei Bauprojekten eingebracht, zuletzt bei der Planung eines Parkes. Der frühe Einbezug von Menschen mit Behinderungen in Projekte habe den Vorteil, dass Anpassungen in der Planungsphase mitgedacht werden könnten und am Ende auch wirklich funktionierten. Auch bei Sensibilisierungsprojekten wie „Die andere Stadtführung“ oder an Neuzuzügerapéros sei die Gruppe regelmässig einbezogen worden.

Drei Gemeindevertreter:innen (Nadine Perego, Yvonne Bürgin, Mike Künzle vlnr) erzählen von ihren Erfahrungen mit Inklusionsprojekten in ihrer jeweiligen Gemeinde. (Bildquelle: Samuel Schalch/Gemeindeamt)

Bülach diskutiert aktuell die Arbeitsgruppe zu erweitern: „Wir wollen eine bessere Repräsentation aller Bedürfnisse und würden gerne weitere Menschen mit Behinderungen beiziehen“, erklärt Nadine Perego. „So wünschen wir uns beispielsweise eine Person mit psychischer Beeinträchtigung, eine aus dem Autismusspektrum oder mit einer Hörbehinderung.“

Unterstützung für die Gemeinden

Eine Umfrage unter den Teilnehmer:innen des Forums zeigt, dass vor allem viele kleine Gemeinden bei der Umsetzung der Inklusion noch in den Anfängen stecken. „Ich habe heute das erste Mal gehört, dass die UNO-BRK auch für Gemeinden gilt“ gibt eine Bezirksrätin offen zu. Mehrere Gemeindevertreter:innen geben an, dass ihr Gemeindesaal oder das Verwaltungsgebäude noch nicht barrierefrei seien, Menschen mit eingeschränkter Mobilität also keinen Zugang zur Gemeindeversammlung hätten. „Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Turnhalle barrierefrei ist“, erzählt eine Gemeindevertreterin.

Der Kanton lässt die Gemeinden mit dem Thema Inklusion und seinen vielfältigen Anforderungen jedoch nicht alleine. Bernhard Krauss, Leiter der Koordinationsstelle Behindertenrechte, sowie Andrea Lübberstedt, Chefin des kantonalen Sozialamtes, stellen den Teilnehmenden verschiedene kantonale Unterstützungsangebote zum Thema Inklusion vor. So können Gemeinden beispielsweise einen Inklusions-Check vornehmen lassen, der Auskunft gibt, wo sie noch Entwicklungsbedarf bei der Inklusion haben. Know-how-Vermittlung gibt es auch in Form von Schulungen, Beratung und einem Inklusionsförderprogramm für Mitarbeitende der Verwaltung.

Umsetzung nicht überall gleich schnell

Dass nicht alle Gemeinden die gleichen Entwicklungssprünge in Sachen Inklusion hinlegen können, ist der Geschäftsleiterin der Behindertenkonferenz Kanton Zürich, Martina Schweizer, bewusst: „Für uns ist das Gemeindeforum eine grosse Chance, weitere Gemeinden zu sensibilisieren und das Thema überhaupt aufs Tapet zu bringen“, erklärt sie. Es sei in einem ersten Schritt wichtig, die Gemeinden zu informieren, dass es Ansprechpersonen beim Kanton aber auch bei der Behindertenkonferenz gäbe, wenn sie Projekte für mehr Inklusion in Angriff nehmen wollten.