Islam Alijaj ist neu gewählt und die bisherigen Christian Lohr und Philipp Kutter sind wiedergewählt worden. Sind Sie zufrieden mit diesem Resultat, Herr Schüepp?
Wir freuen uns sehr über das Ergebnis. Zum ersten Mal in der Geschichte der Schweiz sind Menschen mit Behinderungen durch drei Personen aus verschiedenen Parteien im Nationalrat vertreten.
Welche Schlüsse zieht Pro Infirmis aus dem Wahlresultat?
Die Bevölkerung hat offenbar wahrgenommen, dass Menschen mit Behinderungen bisher in der Politik massiv unterrepräsentiert waren, und wollte dies ändern.
Islam Alijaj wurde gar mit sehr hoher Stimmenzahl in die grosse Kammer gewählt. Worauf ist sein Erfolg zurückzuführen?
Es sind seine Fähigkeit zu politisieren und seine gewinnende Persönlichkeit. Er hatte einen starken Willen, die Wahl in den Nationalrat zu erreichen und hat dieses Ziel mit vollem Einsatz und grosser Unterstützung seines Umfeldes über Jahre hinweg verfolgt.
Und wie erklären Sie sich den Erfolg der wiedergewählten Nationalräte Philipp Kutter und Christian Lohr?
Auch sie zeichnet ein grosser Einsatz aus und natürlich ihr politischer Leistungsausweis. Als bisherige Nationalräte geniesst ihre politische Erfahrung bei der Wählerschaft einen hohen Stellenwert.
Zahlreiche Kandidierende mit Behinderungen haben es nicht geschafft. Was lässt sich aus deren Resultaten schliessen?
Viele der anderen 32 Kandidierenden haben gute bis sehr gute Resultate erzielt. Simone Leuenberger, beispielsweise, ist gar erster Ersatz für die EVP-Bern. Die Partei hat allerdings nur einen Sitz im Nationalrat, der jetzt von einem Bisherigen besetzt ist. Wir schliessen aber daraus, dass die politische Selbstvertretung von Menschen mit Behinderungen für die Zukunft breit abgestützt ist.
Warum wurden nicht noch mehr Kandidierende mit Behinderungen gewählt?
Ausser die beiden bisherigen Wiedergewählten ging keine Person von der Behindertenliste in einer Favoritenrolle ins Rennen. Die übrigen Kandidierenden wurden also vor allem deshalb nicht gewählt, weil sie nicht von guten Positionen aus gestartet sind. Denn der Listenplatz und die parteiinterne Unterstützung sind entscheidend. Darum liegt ein grosser Fokus unserer Arbeit in der nächsten Zeit auch darauf, die Parteien für Menschen mit Behinderungen zu sensibilisieren und deren Benachteiligung in den Parteien entgegenzuwirken.
« Darum liegt ein grosser Fokus unserer Arbeit in der nächsten Zeit auch darauf, die Parteien für Menschen mit Behinderungen zu sensibilisieren und deren Benachteiligung in den Parteien entgegenzuwirken. »
Nie zuvor haben so viele Menschen mit Behinderungen kandidiert. Was haben sie in der Öffentlichkeit bewirkt?
Sie haben die Diskriminierung, die heute besteht, klar aufgezeigt. Sie haben auch gezeigt, dass es Menschen mit Behinderungen in der Politik braucht, die mit Ihrer Expertise dazu beizutragen, dass wir uns endlich in Richtung einer inklusiven Gesellschaft bewegen. Die Bevölkerung hat begonnen, die Hindernisse für Menschen mit Behinderungen vermehrt zu erkennen und zu hinterfragen.
Inwieweit hat Ihrer Ansicht nach die Behindertenliste von Pro Infirmis zum aktuellen Wahl-Erfolg beigetragen?
In erster Linie ist der Wahlerfolg natürlich den Kandidat:innen und ihrem Wahlkampf zuzuschreiben.
Natürlich hoffen wir, dass die Behindertenliste das gute Wahl-Resultat unterstützt hat. Inwiefern sie das Wahlresultat aber tatsächlich beeinflusst hat, kann ich nicht abschätzen. Ich hoffe aber, dass die Behindertenliste zur Mobilisierung beigetragen hat, insbesondere von Wähler:innen mit Behinderungen.
Sicher aber hat sie die gemeinsame Bewegung und das gemeinsame Auftreten unterstützt.
Die drei gewählten Politiker haben alle körperliche Behinderungen. Auch auf der Behindertenliste waren vor allem Menschen mit Körperbehinderungen aufgeführt. Wie kommt das?
Es waren auch Kandidierende mit anderen Behinderungsarten auf der Behindertenliste vertreten. Tatsächlich aber treffen Kandidierende je nach Behinderung auf unterschiedliche Hürden und es gibt Gruppen, die noch stärker diskriminiert sind. Dies haben wir auch an der Behindertensession festgestellt und thematisiert. Wir sind uns sicher, dass die drei nun Gewählten sich für alle Menschen mit Behinderungen einsetzen werden.
Philipp Schüepp mit Nouh Latoui an der Vorbereitungssitzung für die Behindertensession letzten März. (Bildquelle: Pro Infirmis)
Was braucht es, damit mehr Menschen mit anderen Behinderungsarten kandidieren?
Es braucht weiterhin den Einsatz aller für die Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention (BRK) und den Abbau von Hindernissen. Wenn Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen effektive Chancengleichheit in der Politik erhalten, werden auch mehr Menschen mit verschiedenen Behinderungen kandidieren und schlussendlich gewählt.
Die Wahlen sind nun vorbei. Hat Pro Infirmis weitere Pläne mit dem Instrument Behindertenliste?
Wir werden auch künftig bei Wahlen in den Kantonen Kandidierende mit Behinderungen unterstützen. Wir möchten insbesondere die Vernetzung und Stärkung dieser Bewegung über die nächsten Jahre vorantreiben. Und wir wollen das Thema nachhaltig bei den Parteien platzieren.
Was ist jetzt wichtig, um den Erfolg mit den drei Sitzen im Nationalrat in vier Jahren zu wiederholen oder zu steigern?
Es braucht Menschen mit Behinderungen, die sich weiterhin politisch engagieren. Es ist wichtig, dass diese politische Bewegung nicht abbricht. Das Thema muss in der Gesellschaft präsent bleiben.
Und die Politik und die Parteien müssen inklusiver werden. Organisationen wie unsere werden sowohl die Politiker:innen mit Behinderungen ihrem Bedarf entsprechend aber auch die Parteien dabei unterstützen.