Pressekonferenz von Inclusion Handicap am 8. Dezember 2023. Von links nach rechts: Islam Alijaj, Nationlarat SP, Verena Kuonen, Co-Präsidentin Inclusion Handicap, Maya Graf, Ständerätin Kt. BL (Grüne), Caroline Hess-Klein, Leiterin Gleichstellung Inclusion Handicap. Bildquelle: Jonas Gerber.

«Die App versicherte mir einen autonomen Einstieg beim Tram», erzählt der frischgewählte Zürcher Nationalrat und Behindertenaktivist Islam Alijaj an der Pressekonferenz von Inclusion Handicap. «Ich stand jedoch vor einer Stufe, welche ich unmöglich überwinden konnte». So musste Alijaj auf das folgende Tram warten. Die Zeit verrann und der Anschluss beim Bahnhof Zürich stand in Gefahr. Dies ist kein Einzelfall und die Reaktion des Transportunternehmens auf diesen Vorfall war ernüchternd: «Dann müssen Sie halt mehr Zeit einplanen». Islam Alijaj nennt dies eine Verschwendung seiner Lebenszeit. Denn laut BehiG haben Menschen mit Behinderungen den Anspruch, den öffentlichen Verkehr zu jeder Zeit autonom und spontan zu nutzen.

« Letzthin ertönte eine Durchsage, welche die Verspätung mit dem Einladen eines Rollstuhls begründete. »

Sébastien Kessler, Vorstandsmitglied Inclusion Handicap

Von ähnlichen Erfahrungen berichtet Sébastien Kessler, Vorstandsmitglied von Inclusion Handicap: «Bei Hochflurzügen benötige ich die Hilfe des Zugpersonals. Diese müssen jedoch den Mobilift auf dem Perron holen und mich dann ein- oder ausladen. Dieser Zug hat dementsprechend meistens anschliessend Verspätung und ich werde einfach in einen Wagen eingeladen, oft ohne Behindertenabteil. So verbringe ich meine Reise im Eingang. Letzthin ertönte eine Durchsage, welche die Verspätung mit dem Einladen eines Rollstuhls begründete».
Solche Diskriminierungen erfahren Menschen mit Behinderungen bei der Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel fast täglich. Doch gerade die Mobilität ist eine zentrale Voraussetzung für die gesellschaftliche Teilhabe, sei es für Arbeit, Ausbildung, für die Freizeit oder die sozialen Kontakte.

Ein Gewinn für alle

Von der Hindernisfreiheit profitieren alle: Menschen mit Behinderungen, Senior:innen, Touristen mit viel Gepäck oder Eltern/Personen mit Kinderwagen. Mit der Alterung der Gesellschaft nimmt die Anzahl von Menschen mit Behinderungen ebenfalls zu. Hindernisfreiheit bedeutet nicht nur die Beseitigung der Barrieren für mobilitätseingeschränkte Personen. So sind Personen mit Seh- und/oder Hörbehinderungen auf barrierefreie Kundeninformationssysteme angewiesen. Diese müssen immer mindestens zwei menschliche Sinne ansprechen, heisst sicht- und hörbar gemacht werden.

Gesetzeswidrige Situation ab 2024

Das BehiG verpflichtet die Schweizer ÖV-Unternehmen, ihre Angebote im Rahmen der Verhältnismässigkeit bis Ende 2023 barrierefrei zugänglich zu machen. Haltestellen, Schienenfahrzeuge, Busse, aber auch Schiffe und Seilbahnen müssen nach Ablauf dieser Frist autonom und spontan nutzbar sein. Die Realität sieht jedoch anders aus. Leidtragende sind 1.7 Millionen Menschen mit Behinderungen in der Schweiz.

Den Transportunternehmen wurde zur Verwirklichung eines «behindertengerechten» Angebots im öffentlichen Verkehr eine 20jährige Frist eingeräumt. Berichte des Bundes zeigen, dass rund 40 Prozent der Bahnhöfe, sprich rund 500 nicht den Vorgaben des BehiG entsprechen. Bei Bus- und Tramhaltestellen sind es gar zwei Drittel.

« Die App versicherte mir einen autonomen Einstieg beim Tram. Ich stand jedoch vor einer Stufe, welche ich unmöglich überwinden konnte. »

Islam Alijaj , Nationalrat SP

15 Jahre dieser Frist wurden verschlafen, in den letzten rund 5 Jahren erwachte zumindest ein Engagement zur Hindernisfreiheit. Ob die Bahnunternehmen dieses Engagement weiterführen, ist nicht festgelegt und daher unsicher. Somit ist der Öffentliche Verkehr ab 1.1.2024 in der Schweiz rechtswidrig.
Es ist offensichtlich, dass es ohne klare Regulierung beim ÖV für die Menschen mit Behinderungen nicht vorwärts geht. Es ist Zeit zu handeln, weitere Massnahmen zu ergreifen und Kontrolle zu führen, damit die Transportunternehmen, Gemeinden, Kantone und der Bund ihren Verpflichtungen gerecht werden.


Forderungen an den Bund

Inclusion Handicap, der Dachverband der Behindertenorganisationen Schweiz fordert von Bundesrat und Parlament folgende Massnahmen: Eine neue gesetzliche Frist zur Umsetzung des BehiG bis spätestens 2030 und eine Etappierung mit verbindlichen Zwischenzielen. Gemäss Verband soll das Bundesamt für Verkehr diesbezüglich die Verantwortung und den Lead übernehmen, mit griffigen Kontrollen und der Möglichkeit von Sanktionen. Zusätzlich wird eine solide und zweckgebundene Finanzierung gefordert. Denn aktuell gefährde der Bund durch den Spardruck die Umsetzung des BehiG. Ein Zustand, welcher inakzeptabel und vor allem gesetzeswidrig ist, jedoch in der Schweiz zumindest bis heute ohne Konsequenzen bleibt.