Die Politik ist sein Leben: Islam Alijaj setzt sich für eine inklusive Gesellschaft ein. Bildquelle: Michael Sauber.
Sie sagen, dass Sie Ihren Wahlkampf inklusiv gestalten. Können Sie das etwas ausführen?
Das eine ist, dass ich Assistent:innen organisiere, die mich während dem Wahlkampf unterstützen. Das andere ist, dass in meinem Wahlkampf keine Gruppe von Menschen ausgeschlossen wird.
Was meinen Sie damit, dass niemand ausgeschlossen wird?
Das heisst, dass die Kommunikation, die Website und die Wahlkampf-Events möglichst barrierefrei sein müssen. Und es heisst auch, dass sich Menschen mit Behinderungen in die Kampagne einbringen können. Mein Wahlkampfauftakt wurde beispielswiese von Gebärdendolmetscher:innen begleitet und auch mein Wahlspot wird übersetzt werden.
Sie setzen sich also im Wahlkampf nicht nur für die Inklusion der Menschen mit Körperbehinderungen ein, sondern auch für solche mit anderen Behinderungsarten?
Genau. Ich kämpfe jeden Tag für eine inklusive Gesellschaft. Da ist es selbstverständlich, dass ich auch im Wahlkampf vorlebe, was ich fordere.
Auch habe ich die Erkenntnis gewonnen, dass es zu kurzfristig gedacht ist, wenn ich mich nur für meine eigene Behinderungsgruppe engagiere. Wir Menschen mit Behinderungen machen in der Schweiz insgesamt 1,7 Millionen Personen aus. Zusammen können wir besser für die Inklusion kämpfen. Das bedeutet, dass Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen berücksichtigt werden müssen.
« Zusammen können wir besser für die Inklusion kämpfen. »
Haben Sie ein Beispiel dafür, wie Sie Menschen mit psychischen Behinderungen einbeziehen?
Damit auch Menschen mit psychischen Behinderungen an meinen Wahlkampfevents teilhaben können, garantiere ich, dass sie vor Ort jeweils eine direkte Ansprechperson haben. Auch erhalten sie bei den Anlässen die Möglichkeit, sich bei Bedarf zurückzuziehen, wie bei den Veranstaltungen «Karl*a inklusiv» im Debattierhaus in Zürich. Dort steht für sie wie auch für andere, die etwas Ruhe brauchen, ein Ruheraum zur Verfügung. So können sie sich nach einer Pause wieder in die Diskussion einbringen.
Sie haben eine eigene Website und auf YouTube verbreiten Sie Podcasts, die Sie selber erstellt haben. Was braucht es für einen möglichst barrierefreien Auftritt im Internet?
Alle meine Podcasts sind untertitelt. Die Mehrheit der Texte auf meiner Website werde ich in die leichte Sprache übersetzen lassen. Die Übersetzung ist nicht nur für Menschen mit kognitiven Behinderungen gedacht, sondern auch für Personen, welche die deutsche Sprache nicht gut beherrschen.
Ein komplett barrierefreier Internet-Auftritt ist leider teuer. Momentan kann ich das nicht finanzieren. Dennoch versuche ich mit meinem Team, die Website laufend barrierefreier zu gestalten.
Sie sprechen die Kosten an, die durch Ihre Inklusionsleistungen entstehen. Woher haben Sie die Mittel dafür?
Einen grossen Teil der Kosten konnte ich zum Glück über ein Crowdfunding decken. Doch damit ist die Finanzierungsfrage bis heute leider nicht ganz gelöst.
Für den Wahlkampf habe ich ein Budget erstellt. Darin habe ich auch die Kosten für eine Vielzahl von Inklusionsleistungen eingerechnet, wie beispielweise die Übersetzungsdienstleistungen.
Ich trage allein für die Assistenzleistungen, die ich benötige, erheblich höhere finanzielle Lasten als andere Kandidierende. Doch dieser Startnachteil wird mir nicht ausgeglichen.
Welche Massnahmen waren für Sie neu?
Das Gebärdensprachdolmetschen und die Textübersetzungen in die leichte Sprache waren neu für mich. Inzwischen setze ich diese Dienstleistungen immer häufiger ein.
Woher haben Sie das Know-How dafür?
Sehr viel habe ich mir selber über «learning by doing» angeeignet. Natürlich habe ich dabei Fehler gemacht. Aber ich habe auch aus diesen Fehlern gelernt. Man darf sich nicht zu schade sein, Fehler zu machen, und sich diese auch einzugestehen.
Kommen wir zu Ihnen: Welche Vorkehrungen treffen Sie für Ihre eigene Inklusion?
Da ist zum Beispiel der öffentliche Raum: Der ist nach wie vor nicht barrierefrei. Ich kann in Zürich nicht jedes Tram nehmen, sondern muss vorher im Fahrplan nachschauen, welches Tram für Rollstuhlfahrende zugänglich ist.
Zum andern verstehen viele Menschen mich wegen meiner Sprachbehinderung am Anfang meist nicht. Darum organisiere ich jeweils Verbalassistent:innen für öffentliche Einsätze und für Treffen mit Menschen, die nicht an meine Stimme gewöhnt sind. Diese Assistent:innen wiederholen alles, was ich sage.
« Alle sollen sehen, dass man auch mit meinen Voraussetzungen ein guter Wahlkämpfer sein kann. »
Sie unternehmen einiges, damit Sie den Wahlkampf wie ein Kandidat ohne Behinderung bestreiten können.
Ja, ich will eine hochprofessionelle Kampagne machen. Alle sollen sehen, dass man auch mit meinen Voraussetzungen ein guter Wahlkämpfer sein kann. Dieses Signal ist nicht nur für die Öffentlichkeit, sondern auch für Menschen mit Behinderungen wichtig. Denn viele trauen sich den Weg in die Politik heute noch nicht zu. Ich wünsche mir aber, dass sie Mut bekommen und mit ihren Behinderungen auch in die Politik einsteigen.
Warum ist das wichtig?
Damit wir eine inklusive Gesellschaft schaffen können, braucht es mehr Politiker:innen mit Behinderungen. Einer alleine kann den nötigen Druck nicht erzeugen.
Zwei von 10 Schweizer:innen leben mit Behinderungen, aber bislang teilt nur einer von 200 Nationalrät:innen (Christian Lohr, Die Mitte, TG; Anmerkg. der Red.) unsere Erfahrung. Die Schweizer Behindertenpolitik ist geprägt von dieser desolaten Repräsentation. Das will ich ändern.
Was fordert Sie im Wahlkampf am meisten heraus?
Das sind vor allem die vielen Termine. Ich muss mich gut organisieren und dafür sorgen, dass immer Assistent:innen verfügbar sind. Eine weitere Herausforderung ist, wie bereits erwähnt, dass der öffentliche Raum nach wie vor nicht barrierefrei ist. Das finde ich skandalös.
Dieser Wahlkampf ist nicht Ihr erster. Im Frühling 2022 haben Sie zum Beispiel für den Zürcher Gemeinderat kandidiert und wurden auch gewählt. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?
Eine Sprachbehinderung ist für eine:n Politiker:in natürlich ein markantes Hindernis. Aber viele Menschen haben mir gesagt, dass sie es positiv fänden, dass ich anders bin und so auftrete, wie ich bin. So erlebe ich die Gesellschaft als offener als die Parteien. Es gibt auch in meiner Partei Mitglieder, die finden, man müsse uns Menschen mit Behinderungen eher auf den hinteren Listenplätzen verstecken. Bei der Gemeinderatswahl von 2022 war ich auf Platz 9 gesetzt, wurde aber auf Platz 5 gewählt. Niemand hätte das vorher für möglich gehalten.
In diesem Jahr haben Sie ein Buch mit Ihrer Biografie und Ihre Gedanken zur Inklusion herausgegeben. Darin heisst es, dass die Inklusion kein reines Behindertenthema ist, sondern alle, also die Gesamtgesellschaft, betrifft. Könnten Sie das etwas ausführen?
Damit meine ich zum Beispiel, dass sich jederzeit ein Zwischenfall, ein schwerer Unfall ereignen und bei den Betroffenen zu einer Behinderung führen kann. Ich sage deshalb meinen nicht-behinderten Freunden oft: Uns trennt nur eine Sekunde. Deshalb haben wir alle ein Interesse an einer inklusiven Gesellschaft. Auch ist vielen nicht bewusst, dass sie im Alter ebenfalls auf Barrierefreiheit angewiesen sind. Die Inklusion ist darum kein Nischenthema, sondern geht uns alle etwas an.