Unabhängig von Behindertenorganisationen organisierten sich Menschen mit Behinderungen innerhalb kürzester Zeit um ein klares Zeichen gegen die Diskriminierung im öffentlichen Verkehr zu setzen. 

Sina Eggimann - Behindertenrechtsaktivistin aus dem Kanton St. Gallen – hat zusammen mit der entsprechenden Petition auf WeCollect bereits über 15'000 Unterschriften erreicht. Die Petition wird am 11. März – symbolisch um fünf nach zwölf – in Bern vorgelesen und danach dem Bund übergeben.

Sina Eggimann im Interview mit einer SRF-Journalistin. Bildquelle: Clara Bryois, Pro Infirmis.

Frau Eggimann, in Ihrer Petition fordern Sie, dass der öffentliche Verkehr sofort barrierefrei werden soll. Ist das nicht etwas unrealistisch? Es ist doch nachvollziehbar, dass die Umbauten Jahre in Anspruch nehmen werden?

Es gab eine Umsetzungsfrist von 20 Jahren! Zwei Jahrzehnte haben die Transportunternehmen Zeit gehabt.

Wir fordern nicht, dass der ÖV «sofort» barrierefrei sein soll. Wir verleihen nur einem Gesetz Nachdruck, das es seit 20 Jahren gibt. In den ersten fünf bis zehn Jahren wurde die Umsetzung der Barrierefreiheit verschlafen. Wäre früher mit den Umbauten begonnen worden, dann wäre heute barrierefreies Reisen mit dem ÖV möglich.

Damit das nicht noch einmal passiert, fordern wir nun verbindliche Ziele und Pläne, wie und bis wann welche Etappen umgesetzt werden.

« Teuer kommt es vor allem, wenn die Barrierefreiheit nachträglich implementiert werden muss. »

Sina Eggimann, Mit-Initiantin der Petition "ÖV für alle"

Die Transport- und Infrastrukturunternehmen geben an, dass die Umbauten hohe Kosten aufwerfen und sie noch mehr Geld vom Bund benötigen. Was sagen Sie dazu?

Wenn Menschen mit Behinderungen von Anfang an einbezogen werden und der Umbau sorgfältig geplant wird, sind die Mehrkosten vergleichsweise gering. Teuer kommt es vor allem, wenn die Barrierefreiheit nachträglich implementiert werden muss.

Ausserdem sehe ich diese vielmehr als Investition, die allen zugutekommt. Von einem barrierefreien öffentlichen Verkehr profitieren neben Menschen im Rollstuhl auch Familien mit Kinderwagen, ältere Menschen, Reisende mit Gepäck und andere. 

Wie wichtig ist der ÖV in Ihrem Alltag? Welche Hürden erleben Sie persönlich?

Der ÖV ist sehr wichtig für mich. Egal ob es um meine Arbeit, Freizeit oder auch mein politisches Engagement geht.

Aktuell muss ich bei jeder Zug- oder Busverbindung nachschauen, ob diese barrierefrei ist und allenfalls telefonisch Ein- und Ausstiegshilfe anfordern. Dabei muss ich mir jedes Mal die eineinhalbminütige Ansage beim SBB Call Center Handicap anhören. Das nimmt unnötig viel Lebenszeit und Energie weg, die ich viel sinnvoller und besser nutzen könnte.

Zudem muss diese Voranmeldung je nach Bahnhof eine oder zwei Stunden im Voraus erfolgen. Oft weiss ich aber nicht wie lange eine Sitzung oder ein Anlass dauert, und so warte ich unter Umständen eine Stunde, bis ich mich auf den Heimweg machen kann. Manchmal ist es auch kurzfristiger möglich, aber das hängt immer vom Goodwill und der Kapazität der Mitarbeitenden vor Ort ab. Dabei will ich keine Privilegien oder eine Sonderbehandlung, sondern nur eines: Den ÖV nutzen (können) wie alle anderen auch!

« Dabei will ich keine Privilegien oder eine Sonderbehandlung, sondern nur eines: Den ÖV nutzen (können) wie alle anderen auch! »

Sina Eggimann , Mit-Initiantin der Petition "ÖV für alle"

Sie haben eine Petition zum öffentlichen Verkehr «ÖV für alle» lanciert. Wie kam es dazu?

Das Versprechen vor zwanzig Jahren war, dass 2024 der öffentliche Verkehr barrierefrei sein würde. Damals war ich gerade 18 geworden und 20 Jahre erschienen mir eine Ewigkeit zu sein, aber ich freute mich trotzdem darauf. «In 20 Jahren – so dachte ich –werde ich zwar 38 Jahre alt sein, aber endlich unkompliziert reisen können, wie alle anderen auch!» 

Dieses Versprechen wurde leider nicht eingelöst. Seit dem 1. Januar 2024 befindet sich der öffentliche Verkehr sogar in gesetzeswidrigem Zustand. Aus Frustration bin ich einer Whatsapp-Gruppe beigetreten, die am 11. Januar von Menschen mit Behinderung gegründet worden war, die genau wie ich genug hatten, einfach weiter auf Verbesserungen zu hoffen. Innerhalb kürzester Zeit ist diese kleine zu einer grossen Gruppe geworden und wir wollten gemeinsam als Selbstvertreter:innen – unabhängig von Institutionen, sondern als direkt Betroffene – ein Zeichen setzen, dass es so nicht weitergeht. Unter der Petition auf Campax steht zwar mein Name – ich stehe aber nur als Stellvertreterin für all die vielen Menschen, die an dieser tollen und einzigartigen Aktion teilgenommen haben.