Symbolbild: ungültige Unterschriftenbogen für die Inklusionsinitiative. Bildnachweis: Silvia Meierhofer
Kevin Rauch aus Zürich ist es wichtig, dass seine Stimme zählt. «Viele denken es sei jetzt dann mal gut mit der Inklusion, es gehe ja nicht schlecht voran», erklärt der Aktivist und Koch, der mit einer Lernbehinderung lebt. «Aber es ist noch immer schwierig, als Mensch mit Behinderung vorwärtszukommen im Leben.» Ihm sei es wichtig, dass er mitwirken könne und nicht über seinen Kopf hinweg Politik gemacht werde. Um die Einreichung der 105’000 gültigen Unterschriften als Meilenstein zu feiern, reist der 39-jährige heute extra nach Bern.
Wie Rauch haben sich viele Menschen mit Behinderungen für die Initiative ins Zeug gelegt und auch selbst unterschrieben.
« Es ist noch immer schwierig, als Mensch mit Behinderung vorwärtszukommen im Leben. »
Doch ein Teil dieser Unterschriften scheinen nicht zu zählen. Das sagt Marc Wilmes vom Kampagnenbüro M.R. Wilmes Kampagnen. Im Auftrag des Vereins für eine inklusive Schweiz, dem Trägerverein der Inklusions-Initiative, hat er die eingereichten Unterschriften geprüft und von den Gemeinden beglaubigen lassen.
Dabei ist dem erfahrenen Unterschriftenprüfer etwas ins Auge gestochen: «Es kamen häufiger als gewohnt ungültige Unterschriften aus Kollektivhaushalten zurück, mit dem Vermerk: nicht hier wohnhaft/weggezogen» erzählt er am Telefon. Als Beispiel nennt er den Bogen einer Gemeinde, auf dem 8 von 10 Unterschriften aus einem gemeinsamen Haushalt ungültig waren. Aus Sicht von Wilmes liegt ein Verdacht im Raum: «Das sind Menschen aus Heimen, denen nicht bewusst war, dass sie ihren gesetzlichen Wohnort und nicht ihre Aufenthaltsadresse angeben müssen.» Ihm ist aber wichtig festzuhalten, dass es trotz dieses Umstandes prozentual nicht mehr ungültige Stimmen gab als bei anderen Initiativen auch.
Das Heim ist meist nicht offizieller Wohnsitz
Der Verein für eine inklusive Schweiz wurde von Wilmes auf das Problem aufmerksam gemacht und hat seinerseits reagiert: über seinen Vorstand informierte er INSOS, den Verband für Dienstleister im Bereich Behinderung, und bat um Sensibilisierung für das Problem in den Heimen. Auf Nachfrage bei der Bundeskanzlei wurde klar: Die Bundeskanzlei sieht keine rechtliche Grundlage für die Gemeinden, die Stimmen aus den Heimen trotzdem zu zählen.
Der Grund für die Ungültigkeit der Unterschriften ist eine Besonderheit des Rechts für Menschen, die in Institutionen leben. Für sie gilt, dass ein Aufenthalt in einer Institution normalerweise nicht dazu führt, dass sie ihre Schriften in der Institutionsgemeinde hinterlegen, sie melden sich dort in der Regel als Wochenaufenthalter an und behalten die Schriften am früheren Wohnort. Genauso ihren Eintrag im Stimmregister, der für die Beglaubigung der Initiative zählt. Trotzdem ist die Institution ihr Daheim, der Ort, den sie möglicherweise nennen, wenn sie gefragt werden, wo sie wohnen.
« Menschen mit Behinderungen werden nicht als gleichwertig und selbstbestimmt betrachtet, sondern als hilfsbedürftige Wesen, die von einer Gemeinde in einer Institution untergebracht und verwaltet werden müssen. »
Die Gründe für diese Rechtslage liegen gemäss Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Basel und Vorstandsmitglied des Vereins für eine inklusive Schweiz, in einer alten Denkweise, die sich im Gesetz niederschlage: «Menschen mit Behinderungen werden nicht als gleichwertig und selbstbestimmt betrachtet, sondern als hilfsbedürftige Wesen, die von einer Gemeinde in einer Institution untergebracht und verwaltet werden müssen.» Auch die Finanzierung sei über die Herkunftskantone und -gemeinden geregelt. Das entspreche aber mitunter nicht der Lebensrealität eines Menschen. Manche lebten über viele Jahren in einer Institution, seien dort fest verwurzelt und hätten noch immer die Schriften in einer anderen Gemeinde, welche möglicherweise weit weg liege. Markus Schefer hält das für problematisch: «Dass ausgerechnet beim Unterschreiben der Inklusionsinitiative, welche Menschen mit Behinderungen zu mehr Rechten verhelfen will, ein Teil von Ihnen wieder vor bürokratischen Hürden stand, ist stossend.»
Bezifferung unmöglich
Beziffern lässt sich das von Unterschriftenprüfer Marc Wilmes beobachtete Phänomen nicht. Das liegt in der Natur der Sache: Nur kleine Gemeinden schicken die Unterschriftenbogen einzeln beglaubigt zurück. Oft bündeln die Gemeinden mehrere Bogen und machen eine Gesamtbescheinigung, die Bündel dürfen später nicht mehr geöffnet und gesichtet werden. Auch aufgrund des Datenschutzes lässt sich im Einzelfall nicht klären, ob eine Person wirklich in einem Heim lebt und falsch unterschrieben hat, oder doch weggezogen ist.
« Dass ausgerechnet beim Unterschreiben der Inklusionsinitiative, welche Menschen mit Behinderungen zu mehr Rechten verhelfen will, ein Teil von Ihnen wieder vor bürokratischen Hürden stand, ist stossend. »
Einmal bei der Bundeskanzlei eingereicht, könnte nur noch diese prüfen, ob es tatsächlich eine Häufung solcher Meldungen aus Heimen und anderen Kollektivhaushalten gibt. Auf Anfrage teilt sie jedoch mit, sie dürfe keine systematischen Analysen der Unterschriften durchführen, sondern stelle einzig fest, wie viele Stimmen gültig und ungültig seien, ohne Angabe von Gründen.
Verschiedene Ansätze
Potenziell von der Problematik betroffen sind etwa 100‘000 alte Menschen und 25‘000 mit Behinderungen, die in Institutionen leben. Ein guter Teil dieser Institutionen ist Mitglied bei CURAVIVA und INSOS, Branchenverbände von ARTISET, der Föderation der Dienstleister für Menschen mit Unterstützungsbedarf. Die Föderation stellt ihren Mitgliedern Fachinformationen zu verschiedenen Themen zur Verfügung, unter anderem auch ein Merkblatt zur politischen Teilhabe von Klient:innen.
Rahel Stuker, Geschäftsführerin INSOS sagt, der Verein für eine inklusive Schweiz habe den Verband auf das Problem mit dem Wohnsitz aufmerksam gemacht. Man habe anschliessend in einem Newsletter, der an alle INSOS-Dienstleister ging, darauf hingewiesen.
Einen pragmatischen Lösungsansatz hat Unterschriftenprüfer Marc Wilmes: Er regt an, dass Initiativkomitees künftig das Problem «Wohnsitz von Menschen in Institutionen» in ihrem Leitfaden zur Unterschriftensammlung festhalten. Damit würden die Stimmensammelnden für das Thema sensibilisiert. Insbesondere dann, wenn der Inhalt einer Initiative für alte Menschen oder solche mit Behinderungen von speziellem Interesse ist.
Iris Hartmann, Geschäftsleiterin des Vereins für eine inklusive Schweiz findet das eine gute Idee, sie hält jedoch fest:
« Die aktuelle Situation ist ein Systemfehler, der eine politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen massiv erschwert. »
Zusammenarbeit mit REFLEKT
Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit Christian Zeier vom Team REFLEKT entstanden.