Philipp Schüepp gemeinsam mit Maud Theler und Christian Lohr an der Behindertensession. (Bildquelle: Pro Infirmis)

In der Woche nach dem Wahlsonntag klingelt das Telefon häufiger als sonst. Nicht nur die Medien rufen an, auch das Bundeshaus. Der Grund ist in beiden Fällen derselbe: Drei Politiker mit Behinderungen ziehen in den Nationalratssaal ein.

An der Behindertensession im März waren es 44 Menschen mit Behinderungen.  Nun also drei. «Zu wenig?», wollen die Medien wissen. «Was müssen wir nun machen?», will das Bundeshaus wissen. Und klar ist, gewöhnt haben sich beide noch nicht daran.

Aus neu mach neu

Der Grund dafür, dass das Telefon nach den Wahlen auch bei Pro Infirmis klingelt, liegt einige Zeit zurück. 2020 fiel das 100-Jahr-Jubiläum der Organisation der Corona-Pandemie zum Opfer. Gerettet wurden eine politische Weiterbildung und eine Reservation des Bundesplatzes mit vielen Fragezeichen. Böse Zungen würden sagen: ein Scherbenhaufen.

In Japan existiert die Tradition Kintsugi. Keramikscherben werden wieder zusammengeklebt, die Bruchstellen vergoldet zur Schau gestellt; die Schönheit der vermeintlichen Unvollkommenheit.

Und inmitten der ersten Versuche, die Scherben zusammenzukleben, klingelt auch bereits im Frühling 2022 das Telefon. Am anderen Ende der zu der Zeit designierte höchste Schweizer, Martin Candinas, mit dem Angebot, sein kommendes Präsidialjahr gemeinsam zu nutzen. 

Wir brauchen mehr Leim, mehr Scherben, mehr Gold. Das Jahr 2023 hatte das Potential ausserordentlich zu werden, gewöhnungsbedürftig sogar.

Historische Scherben

Die Jubiläumsfeier lieferte die ersten Scherbenstücke. Doch auf diesen lasten 100 Jahre Geschichte. Die Geschichte einer Organisation, die ihre Ursprünge in der Fürsorge hat, nicht in der Selbstvertretung. Der Elefant im Porzellanladen versucht einen Befreiungsschlag – fraglich, ob der Leim da reichen wird.

Ausgesprochen wurde die Frage, die dies versinnbildlicht, an einer Vorbereitungssitzung mit den gewählten Parlamentarier:innen der Behindertensession.Doch sie schwang schon lange davor mit und tut es bis heute: «Warum Pro Infirmis?»

«Wegen ihrer Verbindung zum Nationalratspräsidenten und weil sie kurzfristig die Ressourcen dafür aufbringen kann.» Das wäre die einfache Antwort gewesen. Aber nicht die Antwort auf die eigentliche Frage: Wie legitimiert ist diese Organisation, das zu tun?

EineFrage, die sich alliance f bei der Frauensession nicht gleichermassen stellen musste. Eine Organisation mit einem weiblichen Co-Präsidium, Vorstand, Geschäftsleitung und Projektleitung. Man könnte es sich anders nicht vorstellen - ausser eben bei der grössten Behindertenorganisation der Schweiz.

Vernissage

Wie legitimiert war Pro Infirmis also? Die ehrliche Antwort: Sie war es nicht. Doch sie konnte darum kämpfen. Sie konnte versuchen, die richtigen Teilstücke zusammenbringen: Eine Kommission aus Politiker:innen mit Behinderungen beispielsweise, die die Behindertensession leitet und alle inhaltlichen Entscheidungen trifft. Sie konnte Menschen mit Behinderungen als Expert:innen einberufen, um sicherzustellen, dass die Kampagne die verschiedenen Aktionen auch wirksam, quasi als Leim, verbindet. Und vor allem konnte sie dafür sorgen, dass der Glanz schlussendlich nicht – oder seien wir auch hier ehrlich; nicht nur – auf Pro Infirmis strahlt, sondern auf die Menschen mit Behinderungen, deren Einsatz und Expertise die verschiedenen Aktionen ermöglichten.

Ob uns dies geglückt ist, ist an Ihnen zu beurteilen. Mit den Wahlen vom 22. Oktober wurde vorerst das letzte Stück angeklebt. Der Wahlerfolg von Christian Lohr, Philipp Kutter und Islam Alijaj ist allein ihnen zuzuschreiben. Wir hoffen dazu beigetragen zu haben und beizutragen, dass weitere folgen werden.