Bildquelle: Ursula Häne
Herr Schefer, wie bedeutsam ist die Behindertensession aus Ihrer Sicht?
Es war wichtig, dass die Session stattgefunden hat. Sie ist ein wichtiges Zeichen an die breite Öffentlichkeit, dass Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft teilhaben wollen wie andere Menschen auch.
Die gesellschaftliche und politische Teilhabe ist in der UN-Behindertenrechtskonvention UN-BRK festgehalten.
Ja, die Konvention gewährleistet das Recht, dass Menschen mit Behinderungen im politischen Prozess gleichermassen teilnehmen können wie andere Menschen. Es ist wichtig, dass die Behindertensession dies bekräftigt hat.
Die Session fordert mit einer Resolution die volle politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Was erhoffen Sie sich von der Resolution?
Ich erhoffe mir, dass breitere Kreise in der Politik und in der Gesellschaft sich über dieses Thema informieren und etwas für die Umsetzung dieses Rechts tun.
Heute gibt es noch zahlreiche Hindernisse, die eine vollständige politische Teilhabe verunmöglichen. Oft argumentieren Politiker:innen mit den Kosten und tun deshalb nichts, um die Hindernisse zu beheben.
Kosten werden häufig vorgeschoben, wenn Politiker:innen und Behörden etwas nicht tun wollen. Oder es ist eine unüberlegte Reaktion, ohne dass sie sich mit dem Thema eingehend auseinandergesetzt haben. Aber für die vollumfängliche Barrierefreiheit der politischen Prozesse müssen Politik und Behörden sofort anfangen, damit dieses Ziel innert nützlicher Freist erreicht wird. Die Tragbarkeit der Kosten ist dann zu diskutieren, wenn wir wissen, welche Massnahmen getroffen werden sollten.
Was verstehen Sie unter einer «nützlichen Frist»?
Es braucht einen konkreten Plan, in dem steht, wann man welche Massnahmen umsetzt. Dazu müssen Politik und Behörden abklären, welche Massnahmen erforderlich sind, und wie viel diese kosten. Anschliessend können sie sie budgetieren und einen Zeithorizont festlegen.
« Kosten werden häufig vorgeschoben, wenn Politiker:innen und Behörden etwas nicht tun wollen. »
Die Schweiz hat die UNO-BRK 2014 ratifiziert. Trotzdem bestehen heute noch viele Barrieren für die politische Teilhabe der Menschen mit Behinderungen. Wo sehen Sie die Gründe?
Es gibt erst seit wenigen Jahren eine intensivere öffentliche Debatte über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Deshalb sind wir in der Schweiz noch nicht sehr weit. In den letzten 5 Jahren ist aber einiges ins Rollen gekommen.
Was zum Beispiel?
Verschiedene Kantone sind aktiv geworden, die Behindertenverbände haben ihren Einsatz verstärkt und werden entsprechend besser gehört und ernster genommen. Jetzt plant auch der Bundesrat eine Revision des Behindertengleichstellungsgesetzes. Ende April wird zudem die Inklusionsinitiative lanciert.
Sie sagen, einzelne Kantone seien aktiv geworden. Das heisst auch, dass in vielen Kantonen wenig oder gar nichts gegangen ist. So zum Beispiel fehlt vielerorts die Leichte Sprache bei Behördeninformationen. Wie kann das geändert werden?
Entweder müssen Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen versuchen, Mitglieder des kantonalen Parlaments dazu zu bringen, Vorstösse einzureichen, oder auf kantonaler Ebene eine Volksinitiative zu starten.
An der Behindertensession wurde auch kritisiert, die Schweiz verwende immer noch diskriminierende und ungerechtfertigte behindertenfeindliche Begriffe, wie "invalid". Das wurde auch im Bericht des UN-Ausschusses von 2022 bemängelt. Wen sehen sie hier in der Pflicht, das zu ändern?
Es wäre wichtig, dass man im Bereich der Invalidenversicherung, aber auch in anderen Gebieten wie etwa dem Strafrecht, herabwürdigende Begriffe entfernt. Dies könnte etwa vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen angestossen werden. Essenziell ist aber, nicht nur die Begriffe zu ändern, sondern auch die Inhalte anzupassen.
Die Inhalte ebenfalls anzupassen, ist ein grosses Projekt. Das ist eines der Ziele der Inklusionsinitiative. Mit ihr soll unter anderem erreicht werden, dass Menschen selber bestimmen können, wo sie wohnen möchten.
Ja, für viele Menschen ist es nicht selbstverständlich, dass sie selber bestimmen können, mit wem und wo sie wohnen können. Dies ist ein elementarer Aspekt menschlichen Lebens und muss für alle Menschen gelten.
Seit Jahren setzt er sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein: Markus Schefer ist Mitglied des UNO-Ausschusses. Bildquelle: Julian Powell.
Zurück zur Behindertensession: Mit der Resolution wird gefordert, das Wahl- und Stimmrecht auf alle auszudehnen, auch auf Personen, die unter umfassender Beistandschaft stehen. Was sagen Sie zum Argument mancher Politiker:innen, dass Menschen, die nicht urteilsfähig sind, auch nicht wählen und abstimmen könnten und es deshalb keine Anpassungen im Gesetz brauche?
Bei der Errichtung einer umfassenden Beistandschaft wird nicht geprüft, ob die Betroffenen die politischen Rechte ausüben können. Zudem müssen Menschen, die nicht in der Lage sind, ihre politischen Rechte auszuüben, das nicht tun, so wie ein Grossteil der Stimmberechtigten aus anderen Gründen ebenfalls der Urne fernbleibt. Aber jene Menschen die ihre politischen Rechte ausüben wollen, müssen dazu die Möglichkeit haben. So wie dies bei allen anderen Stimmberechtigten der Fall ist.
Gemäss der Resolution soll eine ausserparlamentarische Behindertenkommission installiert werden. Wie deuten Sie das aus der Sicht des UNO-BRK-Experten?
Ich finde, man muss sich die Schaffung einer ausserparlamentarischen Kommission gut überlegen. Eine solche darf nicht davon abhalten, dass Menschen mit Behinderungen in alle politischen Prozesse aktiv miteinbezogen werden. Besonders bei Fragen, die Auswirkungen für sie haben.
Was würden Sie stattdessen empfehlen?
Ich empfehle, die Entscheidungsprozesse auf allen Ebenen in Politik und Verwaltung so auszugestalten, dass Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen systematisch und aktiv konsultiert werden. Die Anliegen der Menschen mit Behinderungen dürfen nicht an die Kommission ausgelagert werden, sondern müssen überall unmittelbar einfliessen können.
Dieser systematische Einbezug der Menschen mit Behinderungen ist Teil der Forderungen der Resolution. Wie lässt sich das konkret bewerkstelligen?
Es braucht entsprechende Verfahren in der Verwaltung, etwa bei der Erarbeitung von Gesetzen, Verordnungen, Kreisschreiben und anderen Aktivitäten. Aber auch in der Politik müssen Menschen mit Behinderungen verstärkt einbezogen werden. Die politischen Parteien müssen davon überzeugt werden, dass sie vermehrt Kandidierende mit Behinderungen aufstellen. Das setzt etwa voraus, dass Menschen mit Behinderungen ihre Anliegen öffentlich und lautstark vertreten.
Oft sind die Bundespolitiker ja zuerst in den Gemeinden oder im Kanton tätig.
Daher braucht es dringend ein aktives Bemühen der politischen Parteien und der Behindertenverbände, auf allen Ebenen vermehrt Kandidat:innen mit Behinderungen für politische Ämter aufzustellen.
Was halten Sie von der Forderung, dass regelmässig eine Behindertensession stattfinden soll?
Ja, das wäre sicher gut, wenn es regelmässig solche Sessionen gäbe. Sie sind aber kein Ersatz für bedeutend mehr Mitglieder mit Behinderungen in politischen Ämtern. Behindertensessionen können das öffentliche Bewusstsein stärken. Doch in diesen können keine konkreten Entscheide gefällt werden. Sie dürfen nicht zu einem Feigenblatt für mangelnde reale Änderungen verkommen.
Was muss also geschehen, dass das Parlament eine:n Parlamentarier:in mit Behinderungen in den Bundesrat wählt?
Es können nicht nur Parlamentarier:innen in den Bundesrat gewählt werden. Aber eine Grundvoraussetzung für eine solche Wahl ist, dass eine grosse Zahl talentierter Politiker:innen mit Behinderungen besteht. National- und Ständerät:innen mit Behinderungen dürfen nicht länger die seltene Ausnahme sein, sondern müssen die rund 20% der Schweizer Bevölkerung mit Behinderungen auch zahlenmässig angemessen repräsentieren.
Inklusions-Initiative
Die Inklusions-Initiative wird u.a. von AGILE.CH, Inclusion Handicap und vom Verein Tatkraft getragen. Sie fordert ein selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen.
Mehr Informationen zur Inklusions-Initiative findest du hier.