SchwarzweissPorträt einer jungen Frau. Es ist Louise Alberti. Sie lacht in die Kamera. Louise hat dunkle, schulterlange Locken. Sie trägt ein Schwarzes Shirt. Bildnachweis: May Freigang

Louise Alberti. Bildnachweis: May Freigang

Die Inklusionsinitiative setzt einen wichtigen Impuls für Veränderung. Durch eine Anpassung der Bundesverfassung sollen die Rechte von Menschen mit Behinderungen gestärkt werden. Es werden keine Sonderrechte geschaffen, sondern vielmehr die Grundrechte an die besondere Situation von Menschen mit Behinderungen angepasst. Getragen von einem überparteilichen Initiativkomitee und unterstützt von zahlreichen Menschen mit und ohne Behinderungen, verspricht die Initiative, die inklusiven Forderungen für eine erfolgreiche Umsetzung voranzutreiben. Menschen mit Behinderungen erhalten Anspruch auf alle Anpassungs- und Unterstützungsmassnahmen, die für die Gleichstellung notwendig und unabdingbar sind.

Mein Wunsch nach einer feministischen und diskriminierungsfreien Gesellschaft führte mich zu meiner Arbeit im Inklusionsbereich. An der Seite des SP-Politikers Islam Alijaj, der mittlerweile als Nationalrat im Bundeshaus tätig ist, arbeitete ich fast zwei Jahre als Verbalassistenz. Ich begleitete ihn zu zahlreichen Anlässen, Podien und Sitzungen. Wir feierten jeden noch so kleinen Erfolg in Sachen Inklusion. Durch diese Arbeit und die Zusammenarbeit mit ihm lernte ich viele weitere Menschen kennen, die sich für barrierefreie Massnahmen und eine Begegnung auf Augenhöhe einsetzen.

« Das Problem liegt nicht bei den Betroffenen, sondern im System, in dem wir alle leben. »

Louise Alberti, Studentin, Aktivistin, Journalistin

Solche Erfahrungen stimmen mich bis heute optimistisch und geben mir Hoffnung: Ich sehe in der Schweiz grosses Potenzial für die zunehmende Debatte um Inklusion. Das Bewusstsein für die Rechte und die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen nimmt zu, auch wenn Veränderungen Zeit brauchen. Mit der Inklusionsinitiative wird der Bevölkerung noch deutlicher vor Augen geführt, wie viele grundlegende Ungerechtigkeiten heute bestehen. Dabei geht es nicht nur um fehlende Rampen, sondern auch um zu wenige Assistenzstunden, die unbezahlte Care-Arbeit von Familienangehörigen oder den erschwerten Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt. All diese Hindernisse, die lange unsichtbar waren, gewinnen durch die Initiative an Dringlichkeit.

Die meisten Menschen kennen mittlerweile das Wort «Inklusion». Islam Alijaj und andere Menschen mit Behinderungen machen Politik. Pilotprojekte zu inklusiven und barrierefreien Angeboten werden umgesetzt. In Serien tauchen immer mehr Menschen mit sichtbaren und unsichtbaren Behinderungen auf. Diesen Sommer fanden die Paralympischen Spiele statt. Das lässt auf dringend notwendige Veränderungen in unserem Denken und Handeln hoffen.

« Mein Wunsch nach einer feministischen und diskriminierungsfreien Gesellschaft brachte mich zu meiner Arbeit im Inklusionsbereich. »

Louise Alberti, Studentin, Aktivistin, Journalistin

Dennoch sind wir nach wie vor von behindertenfeindlichen Denk- und Verhaltensmustern geprägt. Die Überzeugung, dass Menschen mit Behinderungen hilflose Wesen seien, über die bestimmt werden muss, ist immer noch tief in unseren Institutionen, Beziehungen und Tätigkeiten verankert. So werden Menschen mit Behinderungen oft in Heime abgeschoben, in denen sie abgeschottet sind und wenig Rücksicht auf ihre individuellen Bedürfnisse genommen wird. Alternative Wohnformen, beispielsweise Wohngemeinschaften mit Menschen mit und ohne Behinderungen, erhalten hingegen wenig Förderung. Ebenso unbeachtet wie alternative Wohnformen bleibt oft auch das Thema Sexualität: Viele Menschen mit Behinderungen gelten in den Köpfen von Menschen ohne Behinderungen als asexuelle Wesen. Einvernehmliches sexuelles Handeln, Lust und Kinderwunsch werden ihnen abgesprochen. Ebenso Gewalterfahrungen, was für die Betroffenen oft lebenslange Folgen hat.

Lebenslange Konsequenzen hat die fehlende Inklusion in praktisch allen Lebensbereichen von Selbstvertreter:innen: Viele Menschen mit Behinderungen dürfen nicht selbst entscheiden, wo und mit wem sie leben möchten, sich aus- und weiterbilden, arbeiten oder öffentliche Verkehrsmittel wegen Barrieren selbstständig nutzen. Es gibt kaum Bereiche, in denen Menschen mit Behinderungen nicht mit Benachteiligungen und Diskriminierungen konfrontiert werden. Ständig werden Entscheidungen über Menschen mit Behinderungen getroffen, anstatt sie in den Entscheidungsprozess zu inkludieren. So ist die Zwangssterilisation bei Menschen mit einer vollumfänglichen Beistandschaft noch immer im Ausnahmefall erlaubt, wenn im sogenannten «Interesse der betroffenen Person» gehandelt wird. Es wird über die Person, statt mit ihr entschieden. Angebote hingegen, die es jungen Menschen mit Behinderungen ermöglichen, sich mit Verhütung, Sexualität und Gewalt auseinanderzusetzen und über ihre eigenen Rechte informiert zu werden, fehlen oft.

« Behinderungen liegen nicht nur vor, wenn eine Person eine körperliche, kognitive oder sensorische Behinderung(en) hat. Behinderungen entstehen dann, wenn dieser Person grundlegende Dinge verwehrt werden. »

Louise Alberti, Studentin, Aktivistin, Journalistin

Wir müssen lernen, Inklusion und auch «Behinderungen» neu zu denken. Behinderungen liegen nicht nur dann vor, wenn eine Person eine körperliche, kognitive oder sensorische Beeinträchtigung hat. Behinderungen entstehen, wenn dieser Person grundlegende Dinge verwehrt werden. Das Problem liegt also nicht bei den Betroffenen, sondern im System, in dem wir alle leben. Oder anders: Nicht Menschen sind behindert, Menschen werden behindert – durch die Gesellschaft, die Behörden und die Politik.

Als Mensch mit eigenen unsichtbaren Behinderungen wird einem die Glaubwürdigkeit der eigenen Erfahrungen oder Bedürfnisse stets abgesprochen. Das kann schnell einsam machen. Doch genau hier hat die sogenannte Behinderten-Community Halt und Unterstützung geboten. Wir – ich – bin nicht mehr allein. Wir sind sichtbar. Wir nehmen unter anderem mit der Übergabe der Unterschriften auf dem Bundesplatz den Platz ein, der uns zusteht.

« Ich sehe in der Schweiz grosses Potential für die zunehmende Debatte um Inklusion. Das Bewusstsein für die Rechte und die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen nimmt zu, auch wenn die Veränderungen Zeit brauchen. »

Louise Alberti, Studentin, Aktivistin, Journalistin

Über ein Jahr haben sich Menschen mit und ohne Behinderungen in der ganzen Schweiz für die Unterschriftensammlung der Inklusionsinitiative eingesetzt. Heute, am 5. September 2024, wird die Initiative offiziell eingereicht. Über 100'000 Menschen fordern Gleichstellung, Selbstbestimmung und eine egalitäre Teilhabe für Menschen mit Behinderungen. Die Botschaft ist klar: Es ist höchste Zeit für eine hindernisfreie und inklusive Demokratie. Inklusion geht uns alle an.

Biografie

Louise Alberti setzt sich für inklusiven Feminismus ein. Die 25-jährige Masterstudentin hat als Verbalassistenz gearbeitet und publizierte Texte für diverse Medien. Sie lebt mit chronischen Erkrankungen.