Protestierende Menschen mit Behinderungen vor dem Hauptsitz der SBB in Bern. Foto: Nicole Haas, Reporter:innen ohne Barrieren.

Eine Gruppe von Menschen mit Behinderungen hat sich am Mittag vom 25. Januar 2024 auf dem öffentlichen Platz vor dem SBB-Hauptsitz in Bern Wankdorf getroffen und protestiert. Aus ihrer Sicht haben die öffentlichen Transportunternehmen und Infrastrukturbetreiberinnen die abgelaufene 20-jährige Übergangsfrist zur Behebung von Barrieren zu lange ungenutzt verstreichen lassen. Sie lancieren deshalb eine Petition und fordern damit unter anderem eine Entschuldigung, eine Entschädigung und einen transparent kommunizierten Plan, wie der öffentliche Verkehr so rasch wie möglich vollständig autonom genutzt werden kann. Vom Gesetzgeber fordern sie eine neue gesetzliche Frist.

Rollstuhlfahrer Roger Lier ist an diesem Tag aus der Region Zürich nach Bern gereist, um am Hauptsitz der SBB zu demonstrieren. Er erklärt, warum es ihm wichtig ist, dabei zu sein: „Die SBB stehen symbolisch für alle Transportunternehmen, die reichlich spät mit der Umsetzung der im Behindertengleichstellungsgesetz vorgeschriebenen Normen begonnen haben.“ Er erhoffe sich, dass die Konzernleitung und der Verwaltungsrat, die an diesem Tag eine Sitzung im Gebäude abhielten, auf die Anliegen von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen aufmerksam würden.

Roger Lier vor dem Hauptsitz der SBB in Bern. Foto: Nicole Haas, Reporter:innen ohne Barrieren.

Shuttleservice kommt nicht gut an

Immer noch benötigen Menschen mit Mobilitätseinschränkungen an 40% der Bahnhöfe Einstiegshilfen oder werden mittels eines Shuttleservices an den nächsten barrierefreien Bahnhof transportiert.

Was erstmal nach einer guten Lösung klingt, kommt bei den Betroffenen nicht gut an. Roger Lier erläutert, warum: „Die Einstiegshilfe benötigt eine Stunde, der Shuttleservice zwei Stunden Vorlaufzeit. Wenn ich einen beruflichen oder medizinischen Termin habe, dessen Ende ich nicht klar vorhersehen kann, muss ich unter Umständen lange warten, bis ich meine Rückreise antreten kann. Zudem ist die Chance gross, dass ich längere Zeit in der Warteschlaufe des Contact Center Handicap der SBB hängen bleibe.“ Als Aktivrollstuhlfahrer (das heisst, er bewegt sich in seinem Rollstuhl selbstständig vorwärts) sei auch der Verlad in ein Auto des Shuttleservices unangenehm. „Menschen ohne Rollstuhl können sich das vermutlich nicht gut vorstellen. Ich fühle mich immer ein bisschen wie eine Fracht, die verladen wird. Es ist keine angenehme Erfahrung.“

« Jede rollstuhlfahrende Person hier am Protest investiert unheimlich viel Zeit in Recherche vor Zugfahrt, Anmeldung vorher, muss Extrazeit für Unvorhergesehenes am Bahnhof einrechnen und mehr Umsteigezeit. »

Nina Mühlemann, Rollstuhlfahrerin

Zeitverlust für Menschen mit Behinderung

Aber auch wenn eine autonome Nutzung eines Zuges möglich sei, verlängere sich die Reisezeit mitunter stark erzählt Roger Lier. Es komme beispielsweise vor, dass bei einem langen Intercity nur eine Tür für Rollstuhlfahrende autonom zugänglich sei. Er müsse daher immer recherchieren, wo sich diese Tür befinde. „Es kann vorkommen, dass ich in Luzern ganz hinten auf dem Perron aussteigen und einmal rund um den Bahnhof rollen muss, um im Anschlusszug wieder zu der einen zugänglichen Tür zu gelangen. Mehrere autonom nutzbare Türen in einem langen Intercity-Zug wären aus meiner Sicht wünschenswert.“

Ins selbe Horn bläst Nina Mühlenmann, Rollstuhlfahrerin aus Zürich: „Mich nervt am meisten der Zeitverlust, den ich schon mein ganzes Leben habe Jede rollstuhlfahrende Person hier am Protest investiert unheimlich viel Zeit in Recherche vor Zugfahrt, Anmeldung vorher, muss Extrazeit für Unvorhergesehenes am Bahnhof einrechnen und mehr Umsteigezeit.“

« Ich würde mir wünschen, wir würden als gleichwertige Kunden betrachtet. Welche dieselben Bedürfnisse haben wie alle anderen auch. »

Valdete Hoti, Rollstuhlfahrerin

Valdete Hoti, ebenfalls Rollstuhlfahrerin aus Zürich, zeigt ein Bild von der Fahrt von Zürich nach Bern am Protesttag: Drei Elektrorollstühle stehen in einem Abteil eines SBB-Zuges, mühsam zwischen Tische gequetscht. Valdete Hoti ist auf dem Bild abgewandt von ihren zwei Mitfahrenden im Zug. Die drei Rollstühle blockieren den Wagen komplett. Es ist sichtbar, dass es eng und ungemütlich ist für die Gruppe. Dazu meint Hoti: „Die SBB denkt offensichtlich nicht, dass vielleicht mehrere Rollstuhlfahrer:innen gemeinsam, einander zugewandt, reisen möchten. Ich würde mir wünschen, wir würden als gleichwertige Kunden betrachtet. Welche dieselben Bedürfnisse haben wie alle anderen auch

SBB und VöV bedauern Verzögerung

Der Verband öffentlicher Verkehr VöV und die SBB haben bereits Ende letzten Jahres in Medienmitteilungen ihr Bedauern über die Verzögerung der Massnahmen für mehr Barrierefreiheit zum Ausdruck gebracht. Sie geben an, dass die Umbauten teuer und komplex seien. Zudem seien die Anforderungen an Bahnhöfe präzisiert worden, was zu mehr Aufwand als ursprünglich geplant geführt habe.

Die Reporter:innen ohne Barrieren haben die SBB gebeten, sich zusätzlich zu den Vorwürfen der Protestierenden zu äussern. Die SBB-Mediensprecherin Sabrina Schellenberg sagt zum Shuttle-Fahrdienst: „Dies ist ein neues Angebot, das erst seit dem 01. Januar 2024 existiert. Wir befinden uns aktuell in einer Lernphase, analysieren die einzelnen Fälle und stehen im Austausch mit Interessenvertreter:innen und Kund:innen, damit wir uns verbessern können.“