Assistenzperson hilft einem Rollstuhlfahrer bei Aufspiessen eines Pilzes.

Am Tag des Besuchs des Love Ride Komitees wird gemeinsam grilliert. Bildquelle: Boostr.

„Willst du einen Zaubertrick sehen?“ Die Kontaktaufnahme mit der Reporterin erfolgt an diesem Tag vielfältig. Ich bejahe und bekomme einen Kartentrick vorgeführt, danach fährt der junge Mann im Rollstuhl flink wieder weg, ohne sich auf ein Gespräch einzulassen. Andere Lagerteilnehmer – es sind mit einer Ausnahme einer weiblichen Person alles junge Männer - wollen erstmal wissen, wer ich bin, was eine Reporterin ohne Barrieren macht und warum ich an diesem Tag auch noch einen Reporter vom SRF im Schlepptau habe. Aber irgendwann ist das Eis gebrochen, und ich kann mich ausgiebig mit mehreren Teilnehmenden und Betreuungspersonen des Kinderlagers in Melchtal OW unterhalten. Zwei Wochen verbringen sie weit hinten im Tal, machen von da aus Ausflüge bis nach Zürich oder verbringen gemütliche Tage vor Ort. Das Motto des Camps „Game Trap“ begleitet sie durch die zwei Wochen. Alle Anwesenden sind zu Beginn des Lagers in ein virtuelles Spiel hineingeraten und müssen genügend Punkte sammeln, um wieder herauszukommen.

Attraktives Programm und viel Erfahrung in der Durchführung

Spiel und Spass sind ein wichtiger Teil der Ferienlager, welche die Schweizerische Muskelgesellschaft seit 1978 regelmässig durchführt. Vor dem Mittag zocken einige Jugendliche in einem Gemeinschaftsraum Mario Kart. Nebenan wird Brändi Dog gespielt. Andere necken sich und flitzen in ihren Rollstühlen umher. Die Stimmung ist heiter. Gemäss Lagerleitung habe man den heutigen Tag bewusst etwas ruhiger gestaltet. Einerseits nehme man Rücksicht auf das Wetter, andererseits beachte man auch das Bedürfnis der Kinder nach Erholung und schaue, dass es eine gute Mischung zwischen Aktivitäten und Erholung gebe. Fünf Personen leiten das Lager gemeinsam, sie haben vorwiegend organisatorische Aufgaben im Blick: Transporte, die Planung der einzelnen Aktivitäten, Anpassungen aufgrund des Wetters und die Einsätze der Betreuungspersonen.

Dank der Unterstützung verschiedener Stiftungen kann die Lagerleitung auch ein attraktives Programm anbieten. Diese würde Eintrittskosten für verschiedene Ausflüge übernehmen und so die Lagerkasse entlasten.

Highlight Trike-Ausfahrt

Andri, 15, aus Rohrbach BE, ist zum zweiten Mal als Teilnehmer in einem Lager der Muskelgesellschaft. Er kommt gerne ins Ferienlager, weil er hier andere Leute trifft als im Alltag und ihm die Natur und Bergwelt gefallen. Er kann sich vorstellen, später einmal Radiomoderator zu werden. Auf die Frage, was ihm am besten gefällt, meint er: „Mir gefällt eigentlich alles hier, aber am besten war bisher die Ausfahrt auf den Trikes“. Am Sonntag zuvor war das Komitee des Love Rides, einer Benefizveranstaltung aus Dübendorf ZH, zu Besuch gekommen und hat den Teilnehmenden die Möglichkeit zu einer Ausfahrt angeboten. Auch für Damian, 17, aus Bäretswil ZH, war die Fahrt auf dem Trike das grösste Highlight. In seiner Freizeit spielt er gerne Power Chair Hockey und wird nach den Sommerferien in die Mathilde Escher Stiftung als Mediamatiker schnuppern gehen.

Andri strahlt übers ganze Gesicht: Er kann auf dem Trike mitfahren. Bildquelle: Boostr.

Neben dem Besuch des Love Ride Komitees standen dieses Jahr unter anderem ein Ausflug in den Züri Zoo, ins Lindt Museum und auf die Melchsee-Frutt auf dem Programm. „Wir machen jedes Jahr unterschiedliche Dinge“, erzählt Luc, 15, aus Brügg bei Biel. „Mir gefällt es hier einfach, ich weiss nicht mal warum, aber ich komme immer wieder gerne und bin dieses Jahr schon zum vierten Mal mit dabei.“ Luc verrät, dass er nach den Sommerferien neu nicht mehr in Bern, sondern in Zürich in der Mathilde Escher Stiftung zur Schule gehen wird. Nach einem weiteren Schuljahr wird er dann dort Mediamatiker lernen. „Und vielleicht werde ich irgendwann Gamedesigner. Ob ich dafür dann wirklich studieren möchte, weiss ich jetzt aber noch nicht.“

« Mir gefällt eigentlich alles hier, aber am besten war bisher die Ausfahrt auf den Trikes »

Andri, Teilnehmer

Ferien sind komplizierter geworden

Mit einer fortschreitenden Muskelerkrankung in die Ferien zu fahren, kann zur Herausforderung werden. Luc erzählt, dass es früher einfacher und unkompliziert gewesen sei, einen passenden Ferienort zu finden und alle Vorbereitungen zu treffen. Heute müssten viele Details stimmen. Zum Beispiel sei er letztes Jahr an einem Ort gewesen, wo die Matratzen zu weich waren. „Dadurch musste ich meine Eltern öfter wecken in der Nacht, hatte stärkere Rückenschmerzen und wir hatten am Ende alle mehr Arbeit als Erholung.“

Trotz Schwierigkeiten beim Thema Ferien haben alle drei Träume von Auslandreisen: Damian möchte seine Verwandten in Wisconsin, USA besuchen. Und Luc hat grad drei Traumdestinationen: Er möchte die USA, Japan und die Tropen mit Dschungel bereisen. Andri hingegen zieht es in die Landschaft des Nordens, er würde gerne einmal Norwegen sehen.

 

Zwei Rollstuhlfahrer am Gamen. An der Wand hängt eine grosse Leinwand.

Zwischen den grossen Aktivitäten bleibt Zeit zum Gamen. Bildquelle: Boostr.

Rasche Teambildung erforderlich

Die drei jungen Männer erzählen, dass es etwas herausfordernd sei, sich zu Beginn eines Lagers rasch auf ein ganz neues Netz an Betreuungspersonen einzustellen, aber dass ein paar Tage reichen, um sich an die neue Situation zu gewöhnen. Diese Erfahrung teilt Jeannine Christen, 24, Pflegefachfrau aus Bern: „Es ist für mich immer wieder eine erstaunliche Erfahrung, dass jedes Jahr unterschiedliche Menschen, Betreuungspersonen und Teilnehmende, zusammengewürfelt werden und dann rasch lernen, reibungslos miteinander zu funktionieren.“ Sie ist im Lager fürs Medizinische zuständig und schon zum vierten Mal mit dabei. Für sie sei es wesentlich, dass sie hier einen anderen Alltag habe als im Spital. Der enge persönliche Austausch und die Notwendigkeit zur Improvisation erlebe sie als Bereicherung.

Sie rät allen potentiell Interessierten, es einfach mal mit einem Arbeitseinsatz in einem Lager auszuprobieren: „Unter Umständen findet man hier auch Freunde fürs Leben“ meint sie, sie selbst pflege noch immer Freundschaften, die sich in früheren Lagern ergeben hätten.

« Unter Umständen findet man hier auch Freunde fürs Leben »

Jeannine Christen, Pflegefachfrau

Neben Jeannine Christen und den fünf Mitgliedern des Leitungsteams gibt es noch eine ganze Reihe an Begleitpersonen, welche die vielfältigen Lageraufgaben abdecken: Pro Kind eine Betreuungsperson, zwei Köche, Fahrerinnen und Springer. Gemeinsam funktionieren sie wie Zahnräder eines Uhrwerks, die perfekt ineinandergreifen.

Perspektivenwechsel als Chance

Bruno Knecht, 67, war vor seiner Pensionierung Bankfachmann und ist das erste Mal in einem Lager der Muskelgesellschaft. Er und seine Frau hätten sich entschieden, gemeinsam mehrere Arbeitseinsätze im sozialen Bereich zu machen, erzählt er. Es sei ihnen ein Bedürfnis, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Sie hätten viel Glück gehabt im Leben. Bei der Suche im Internet nach potentiellen Einsatzorten seien sie auf die Muskelgesellschaft aufmerksam geworden. Beide hatten zuvor keine berufliche Erfahrung mit Pflege und Betreuung. „Ich nehme aus diesem Lager ganz viel mit nach Hause, das ich gar nicht in Worte fassen kann.“ Unter anderem habe sich seine Perspektive auf Menschen im Rollstuhl total verändert: „Ich dachte früher immer, die Forderungen der Behindertenverbände seien etwas aggressiv. Nun habe ich hier die Gelegenheit, die Welt aus den Augen dieser jungen Leute zu sehen und mitzuerleben, welche Hürden sie mit Rollstuhl im Alltag haben. Meine Sichtweise hat sich dadurch nachhaltig verändert. Eigentlich müssten sie aus meiner Sicht noch viel härter für Verbesserungen kämpfen.“

« Ich dachte früher immer, die Forderungen der Behindertenverbände seien etwas aggressiv. Nun habe ich hier die Gelegenheit, die Welt aus den Augen dieser jungen Leute zu sehen und mitzuerleben, welche Hürden sie mit Rollstuhl im Alltag haben. Meine Sichtweise hat sich dadurch nachhaltig verändert »

Bruno Knecht, Betreuer

Nach einer ausgiebigen Mittagspause geht es wieder los: Ein kreativ gestalteter Rätselnachmittag, an dem die Teilnehmer:innen gemeinsam weitere Punkte für ihre Befreiung sammeln können, findet in der nahen Umgebung statt. Noch bleiben ihnen ein paar Tage Zeit, um die geforderten 100 Punkte zusammenzubekommen und sich aus der Falle des Spiels zu befreien.

Wollen Sie selbst an einem Lager mitwirken oder teilnehmen?

Weitere Informationen zu den Lagern der Schweizerischen Muskelgesellschaft gibt's hier.