Die Performance X=Hase in Form einer Schulstunde. Bildquelle: Annette Boutellier.

Die Berner Komponistin Ursula Gut hatte die Grundidee zur Performancean der Werkschau über Meret Oppenheim am Berner Kunstmuseum „Mon Exposition“.  „Ich war am überlegen, was ich zum diesjährigen Thema „Wurzeln“ des Berner Musikfestivals aufgleisen könnte. Da fand ich es vor mir: das Schulheft von Meret Oppenheim mit der Hasen-Wurzel-Gleichung x = Hase! Das ist es: Eine Performance dazu, in Form einer Schulstunde!“

Mit 17 Jahren kreierte Meret Oppenheim ihre Formel der Freiheit in ein Schulheft in Form einer Persiflage auf das Fach Geometrie. Es könnte ihr echtes Schulheft sein, vollgekritzelt in einer Geometriestunde von der desinteressierten Schülerin, die bereits weiss, was sie will, was sie kann, und was sie dazu bestimmt nicht braucht, nämlich die Geometrie.

Doch es ist nicht ihr reales Schulheft, es ist bereits ein surreales Konzept, das Schulheft selbst ist ein Kunstobjekt: Erst 17 Jahre jung setzt Oppenheim das Wesen des Surrealismus um, und kämpft mit Humor für ihre Freiheit. Wie in vielen ihrer späteren Werke gilt auch hier schon: Sobald man den Witz verstanden hat, ist man auf ihrer Seite. 'Das Schulheft' ist ein klares Zeichen an ihren Vater, dass sie Künstlerin werden will. Der Vater versteht, und lässt sie ziehen.

Auch für die Initiatorin und Komponistin Ursula Gut war Geometrie etwas, das sie nicht interessierte und darum nicht verstand: „Mathe und Geometrie waren nie mein Ding. Bei mir war immer alles falsch konstruiert, die Zeichnung stimmte nie. Auch darum hat mich das „Schulheft“ inspiriert.“

Die Performerinnen Manuela Imperatori und Marion Allon zeichnen mit Kreide geometrische Figuren und Koordinaten auf den Linoleumboden. Bildquelle: Annette Boutellier.

Meret Oppenheims Ding waren Sprachen, Musik, Kunst. Um Künstlerin zu werden, brauchte sie keine Matura. Nach dem Schulabbruch zog sie auf ihres Vaters Rat hin kurz darauf mit ihrer Basler Freundin Irene Zurkinden, ebenfalls Künstlerin, nach Paris, mitten hinein in die surrealistische Avantgarde Europas und die internationale Jazz-Szene, wo sie zur Muse und zum Modell, aber auch selbst zur Künstlerin wurde.

Lange wie eine Prophetin im eigenen Land geringgeschätzt und kaum bekannt, tragen nun Schulen, Strassen, Gebäude, Plätze, Kunstpreise Meret Oppenheims Namen. Doch Ursula Gut meint:

„Meret Oppenheims Name ist den Menschen unterdessen zwar bekannt, viel mehr als die Pelztasse und den Brunnen in Bern kennen sie aber nicht. Als Komponistin habe ich mich mit ihrer Lyrik befasst, um auf diese Weise einen neuen Zugang zu Oppenheims Werk zu eröffnen.“

Im Korridor des zweiten Stocks des Westflügels gehen die Performer:innen in Stellung, sitzt das Publikum entlang der Wände, allesamt sozusagen 'vor die Tür' des Klassenzimmers geschickt wie unartige Schüler:innen.  Alle Plätze sind besetzt, die Vorstellung ist ausverkauft.

Zu Beginn zeichnen die Performerinnen Manuela Imperatori und Marion Allon mit Kreide geometrische Figuren und Koordinaten auf den uralten, wandtafel-schwarzen, von Tausenden von Schüler:innenfüssen ausgetretenen Linoleumboden. Sie messen mit einem Massstab den Raum aus und markieren Standorte der Performer:innen und die Koordinaten der Bühne. Gemeinsam tragen sie den Massstab durch den Korridor. Eine der Frauen stürzt, der Massstab fällt auf sie und droht sie zu erdrücken. Die Zweite befreit sie davon, beide bringen den Massstab an seinen Platz zurück und stellen sich an den Werktisch. Sie zeichnen nun abwechselnd auf einen Papierstapel.

Ein Gedicht in Sopran: Sängerin und Komponistin Katrin Frauchiger rezitiert Oppenheims Gedicht "Ein merkwürdiger Erdteil". Bildquelle: Annette Boutellier.

Unterdessen rezitiert Katrin Frauchiger, Sängerin und Komponistin, Oppenheims Gedicht „Ein merkwürdiger Erdteil“, zunächst in Sprechstimme, dann im filigranen Sopran gesungen, hauchfein begleitet vom Saxofon, gespielt von Christian Roellinger. Er ist es auch, der das nächste Gedicht auf französisch rezitiert: „Les prés et la forêt“.

Es geht um Freiheit, Freiheit für die junge Frau Meret Oppenheim, und Freiheit für die Kunst. Und es geht auch um die Tochter Meret und ihre Beziehung zu ihrem Vater. Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen ihnen, vorgetragen von den Musiker:innen, zeigen eine innige Verbindung und ein grosses Verständnis des Vaters für seine ungewöhnliche Tochter.

„Für dich – wider dich / Wirf alle Steine hinter dich / Und lass die Wände los.

Der Vater, ein jüdischer Arzt aus der deutschen Provinz nahe bei Basel, hatte in eine Basler Familie von eigenwilligen Frauen eingeheiratet. Er war mit Carl Gustav Jung befreundet, dessen Traumdeutung und Welt der Symbole und Archetypen Meret Oppenheim bekannt waren. Dadurch angeregt hatte Meret Oppenheim seit ihrem 14. Lebensjahr ihre Träume aufgeschrieben, und so in ihrem Unterbewusstsein die archetypischen Tier- und Pflanzen-Symbole aufgespürt, die in ihrer Kunst zentral sind.

„Mein schönes Krokodil, mein Krokodil aus Herz“

Naturmaterialien werden in Oppenheims Händen zu verrückt-aberwitzigen Objekten. Die Namen der vielfältigen Materialien wie Pelz – Filz – Messing – Pilz – Wolle, die Oppenheim verwendete, werfen die Stimmen der PerformerInnen von allen Seiten her in den Raum.

„An dich – Auf dich / Für hundert Sänger über sich / Die Hufe reißen los.“

In der nun folgenden meisterhaften Improvisation verschmelzen die Sounds von Roellingers Saxofon und Matthias Schranz' Cello zum transzendenten Klang eines unbekannten, imaginären Wesens, vergleichbar mit siamesischen Zwillingen, und ihnen reissen wahrlich die Hufe los.

Einen winzigen Zoo, bevölkert von Geiern und Wölfen, mitten im Dschungel von Brasilien, wo tausende freifliegender Vögel den Himmel verdunkeln, so in Wirklichkeit gesehen und beschrieben von Meret Oppenheim, erwecken die Zwillinge lustvoll zum Leben durch das Spiel mit den Materialien der Instrumente selbst, mit Klopfen auf das Holz des Cellos, mit Geräuschen der Metallklappen des Saxofons, der Saitenumwicklungen, des springenden Bogens, und einfach der Luft. Zum Schluss fliesst ein heiterer jazzy Groove ein, so wie ihn Meret in Paris sicher oft gehört hat.

Die Performerinnen verlassen den Werktisch mit dem Papierstapel, der Papierhaufen fliegt, nun ist klar, es ist ein Leporello, rollt sich durch den Korridor und legt sich wie ein langer Teppich auf den Boden, bis zum Treppenhaus, in Richtung Ausgang. Es offenbaren sich auf der Schriftrolle zuvor von den Performerinnen nach Oppenheims Vorlage gezeichnete Hasen, in die Mitte hat sich eine Karotte eingeschlichen.

Oppenheims Hase wird im Leporello sichtbar. Bildquelle: Annette Boutellier.

„ICH weide meine Pilze aus, ICH bin der erste Gast im Haus! -

Und lass die Wände los!“

'Wurzelvogelfrei', die Komposition für Cello und Baritonsaxofon von Ursula Gut ist die nächste Darbietung, die Geschichte eines Vogels, der sich befreit von den Wurzeln, die ihn an der Erde festhalten.

Wie Meret Oppenheim, die versichert: 'Die Freiheit wird einem nicht gegeben, man muss sie sich nehmen', befreit sich der Vogel aus der Fixierung und beginnt zu laufen, die Wurzel lässt er hinter sich liegen.

Die 50 Minuten der Unterrichtsstunde sind rum. Zum letzten Teil begeben sich Publikum und MusikerInnen ins Treppenhaus, auf dem Weg zur Freiheit.

Die letzte Komposition, „Sommer“ und „Herbst“ von Katrin Frauchiger, nimmt den Zwillingssound des Cellos und des Saxofons auf und verschmilzt sie nun mit dem einsetzenden Sopran Frauchigers zu einer Drillingsmusik. Unisono schwingen sich hoch in ungeahnte Höhen reinster Klarheit. Höher als der Himmel, überirdisch. Der Wurzelvogel fliegt zu den Sternen. Ein letzter Text:

„Alle Gedanken, die je gedacht wurden, rollen um die Erde in der grossen Geistkugel. Die Erde zerspringt, die Geistkugel platzt, die Gedanken zerstreuen sich im Universum, wo sie auf anderen Sternen weiterleben“

Am Ausgang findet man die Wurzel wieder, serviert auf einem Silbertablett auf einem kleinen Podest, analog den Pouletbeinen aus Pumps, einem Objekt von Oppenheim.

Es ist angerichtet, und zwar ganz wunderbar!